Die geteilte Stadttun & lassen

Eine Reportage aus Tripoli

Die Syria Street trennt Tripoli in zwei Stadtteile. Bis vor kurzem schossen deren Bewohner_innen noch aufeinander. Heute kontrolliert die Armee die Straßen und Gassen. Doch wie stabil ist der Friede in der libanesischen Hafenstadt wirklich?

Von Markus Schauta (Text und Fotos).

 

Bild: Der 24-jährige Ali war in die Straßenkämpfe an der Syria Street verwickelt. Heute

arbeitet er im Café Kakhwatna.

Fährt man mit dem Taxi durch die Syria Street, ist es zunächst eine Straße wie jede andere: knapp einen Kilometer lang, gesäumt von mehrstöckigen Häusern mit Balkonen, im Erdgeschoss Geschäfte und Cafés. Erst auf den zweiten Blick sieht man die von Gewehrkugeln durchlöcherten Hausfassaden, auf manchen kleben Plakate: zu verkaufen.

Die schnurgerade Straße teilt zwei Stadtviertel voneinander. Auf der einen Seite, wo das Gelände zu einem sanften Hügel ansteigt, Jebel Mohsen. Hier leben Alawit_innen, eine Abspaltung der Schiit_innen. Auf der anderen Seite der Syria Street, im Stadtteil Bab al-Tabbaneh, stehen die Häuser der Sunnit_innen. Bis vor wenigen Jahren waren Fenster und Türen entlang der Straße verbarrikadiert, die Leute beschossen einander von ihren Balkonen aus. 200 Menschen sind in den vergangenen Jahren bei Straßenkämpfen entlang der Syria Street umgekommen. Seit 2014 kontrolliert die libanesische Armee die Straße samt den angrenzenden Stadtteilen und patrouilliert täglich durch die Viertel.

Allen ist geholfen.

«Die Stimmung ist immer noch angespannt», sagt Michael Mayerhofer, blaues Hemd, kurzrasierter Vollbart, auf seinem täglichen Gang durch das sunnitische Viertel. Der Österreicher lebt in Tripoli, um hier sein Projekt Vouchers for Work – «Gutscheine gegen Arbeit» aufzubauen. Der 30-Jährige will damit jenem Phänomen entgegenwirken, das grundlegend für die Konflikte der letzten Jahre war: die bittere Armut. Inspiriert zu dieser Idee hat ihn das Wörgler «Freigeld»-Projekt. Das Tiroler Wörgl der Zwischenkriegszeit und Bab al-Tabbaneh haben eines gemeinsam: die hohe Arbeitslosigkeit. «Seit dem Zuzug syrischer Flüchtlinge ist die ökonomische Situation noch angespannter», sagt Mayerhofer. Von den 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen im Libanon haben sich etwa 70.000 in Tripoli niedergelassen, viele von ihnen im sunnitischen Bab al-Tabbaneh. Die große Nachfrage nach Wohnraum hat die Mieten steigen lassen, ebenso wie die Konkurrenz um Arbeitsplätze am Niedriglohnsektor. Dem Wörgler Modell folgend erhalten libanesische und syrische Arbeitssuchende die Möglichkeit, für ein paar Stunden pro Woche als Fußballtrainer_in, Lehrer_in oder im Gesundheitsbereich gemeinnützige Arbeit zu verrichten. Bezahlt werden sie mit Gutscheinen im Wert von 2.000 und 5.000 Libanesischen Pfund – das entspricht in etwa 1,10 beziehungsweise 2,80 Euro. Diese können sie gegen Waren oder Dienstleistungen einlösen und tragen so zum Haushaltseinkommen ihrer Familien bei. «Das Projekt schafft Arbeitsplätze und kurbelt den Konsum an, wodurch auch die Händler mehr Umsatz machen», so Mayerhofer. «Allen ist geholfen.» Etwa 17.000 Euro hat er in das Projekt eingezahlt. Mit dem Geld ließ er möglichst fälschungssichere Gutscheine drucken. Der größere Teil dient als Rücklage, um den Wert der Gutscheine zu decken. Das Projekt ist vorerst auf den sunnitischen Stadtteil beschränkt, soll in Zukunft aber auf das alawitische Viertel ausgedehnt werden.

Seit Mayerhofer 2016 ein dreimonatiges Pilotprojekt startete, ist er in Bab al-Tabbaneh bekannt. Händler_innen winken ihm über die Straße zu, immer wieder bleibt er stehen, um sich mit Leuten auf Arabisch zu unterhalten. Insgesamt 48 Geschäfte hatten damals teilgenommen. Anfangs war unklar, wie die Stadtverwaltung darauf reagieren würde. «Die Gutscheine sind ja so etwas wie eine Parallelwährung.» Um sich abzusichern, hat er daher mit dem obersten Militär des Stadtteils gesprochen – der einzigen zentral-staatlichen Autorität im Viertel. «Er hat großes Verständnis für das Projekt gezeigt», sagt Mayerhofer. Für die neue Projektrunde möchte er zwischen hundert und 200 Partner ins Boot holen. Omar ist einer von ihnen. Der 30-Jährige betreibt ein Geschäft für Mädchengewand. Der kleine Laden befindet sich unweit der Syria Street, die Stromkabel hängen tief über die Straße, die Häuser sind abgewohnt. Im Schatten eines Baumes steht ein Panzerfahrzeug der libanesischen Armee. Omar hat bereits beim Pilotprojekt 2016 teilgenommen. «Das lief gut», sagt er. «Fast täglich kamen Leute zu mir und bezahlten mit Gutscheinen.» Neu in der zweiten Projektphase ist, dass Geschäftsleute, die ihre Gutscheine in Bargeld einlösen wollen, nur 95 Prozent des Wertes erhalten. «Damit die Gutscheine im Umlauf bleiben», so Mayerhofer. Nicht alle seien davon begeistert. Omar ist gerne wieder dabei. Seine Gutscheine tausche der Familienvater ohnehin am Ende des Tages gegen

Lebensmittel ein.

Unser Café.

Am Ende der Syria Street leuchtet ein rotes Schild von einem tristen Betonbau. Kakhwatna, lautet die Aufschrift: Unser Café. Hohe Glasfenster machen den Raum mit den Holztischen und der Theke angenehm hell. Junge Frauen und Männer unterhalten sich oder tippen auf Smartphones herum, eine Wasserpfeife blubbert. Das Besondere daran: Die Jugendlichen, die sich hier treffen, kommen sowohl aus dem sunnitischen als auch dem alawitischen Stadtteil. Das Café wurde 2016 von der NGO «March» gegründet. Doch die Bemühungen, Alawit_innen und Sunni_innten zusammenzubringen, begannen bereits 2012. «Wir starteten mit einem Kunstprojekt», sagt Lea Baroudi, Leiterin der NGO. «Junge Leute von beiden Seiten der Syria Street sollten Gelegenheit bekommen, den Konflikt als Theaterstück zu thematisieren.» Einfach war das anfangs nicht. «Zum ersten Meeting kamen sie mit Messern und Pistolen, einer brachte sogar eine selbstgebastelte Granate mit», erinnert sich Baroudi. Doch irgendwann begannen die jungen Leute miteinander zu reden, sahen, dass ihre Ängste und Enttäuschungen vielfach dieselben waren.

Ali, gegeltes Haar, tätowierte Unterarme, war einer der ersten, die kamen, um beim Theaterstück mitzuwirken. Zum Schutz brachte er ein paar seiner Freunde mit. «Wir dachten, dass die Sunniten uns angreifen werden», sagt der 24-Jährige, also bewaffneten sie sich. Doch die Waffen wurden von den Veranstaltern des Treffens eingesammelt, und am Ende saßen sechs Sunnit_innen sechs Alawit_innen in einem Raum gegenüber und unterhielten sich mit dem libanesischen Schauspieler Georges Khabbaz, der das Projekt unterstützte. Im Sommer 2015 führten sie ihr Stück Love and War on the Rooftop in Beirut auf. Aus den Akteur_innen eines Straßenkampfes wurden Akteur_innen in einem Theaterstück.

Verpflichtet, zurückzuschießen.

Doch woher kam all der Hass, der sich entlang der Syria Street entlud? Lea Baroudi ist überzeugt, dass es nicht religiöser Fanatismus ist, der dem Konflikt zu Grunde liegt. «Es ist die Armut und das Fehlen einer Zukunftsperspektive, die die jungen Leute Gewalt als Option sehen lassen.» Die Armut ist der Hebel, mit dem Politiker_innen und religiöse Scharfmacher_innen ansetzen können: Ich bin Sunnit_in, du bist Sunnit_in, also unterstütze mich gegen die anderen, so der Gedanke, der hinter den Mobilisierungen steckt. Die anderen, das sind jene, die abweichende politische Ziele verfolgen. In Syrien stehen viele Alawit_innen hinter Bashar al-Assad, viele Sunnit_innen hinter der Opposition. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Doch auch im Libanon gibt es Sunnit_innen und Alawit_innen und Politiker_innen, die für oder gegen das Assad-Regime sind. Und so können die Sunnit_innen in Bab al-Tabbaneh mit Geld aus Saudi Arabien – einem erklärten Gegner Assads – rechnen. Die Alawit_innen am Jebel Mohsen hingegen werden von politischen Gruppen umworben, die dem Assad-Regime nahe stehen, wie etwa die Hisbollah. Das Heer an Verarmten auf beiden Seiten der Syria Street nimmt das Geld gerne, und solange sie damit ihre Familien ernähren können, schießen sie mit Pistolen und Kalaschnikows auf die anderen, die, so sagen es die Geldgeber, Schuld an all der Misere seien.

«Ich war 16, als mein Vater durch die Kugel eines Sunniten sein Augenlicht verlor», sagt Ali. «Ich fühlte mich verpflichtet, zurückzuschießen.» 2012 ging er mit Freunden nach Syrien, um in Homs, im Stadtteil Baba Amr, auf Seiten Assads gegen die Opposition zu kämpfen. Drei Monate, dann wurde Ali verletzt, eine Kugel traf ihn in den Rücken. Ali gehört heute zum Team des Cafés. Es ist für ihn selbstverständlich, dass er hier Sunnit_innen trifft, mit ihnen Wasserpfeife raucht oder gemeinsam Filme ansieht. Auf die Zurufe von Politiker_innen und Predigern will Ali nicht mehr hören. «Sie redeten uns ein, dass Sunniten Bestien seien», sagt er. Das sunnitische Stadtviertel meidet der Alawit Ali nach wie vor. «Der Konflikt ist immer noch da», sagt er. Die Menschen auf beiden Seiten haben zu viele Verwandte und Freund_innen bei den Kämpfen verloren, als dass sie es einfach vergessen könnten. Projekte wie jene von Mayerhofer und der NGO «March» können keine Wunder wirken. Aber es sind kleine Schritte in Richtung Normalisierung.