Wie rechts rutscht Osteuropa? Ein Gespräch
Ist Osteuropa nach rechts gerutscht? Ja, sind wir uns einig, und denken gleich an Polen und Ungarn. Dass Nationalismus auch anderswo auf fruchtbaren Boden fällt, was dieses «Osteuropa» überhaupt ist und ob sich gegen die autoritären Tendenzen auch Widerspruch regt, bespricht Marita Gasteiger mit der Politologin Karin Liebhart.
Foto: Carolina Frank
Wenn heute von Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und autoritären Tendenzen in Osteuropa geredet wird, liegt der Fokus häufig auf Ungarn und Polen. Gibt es sie auch anderswo?
Polen und Ungarn sind aktuell natürlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil bereits viele demokratiepolitisch problematische Schritte gesetzt wurden, etwa Eingriffe in die Medienfreiheit, Schwächung der Verfassungsgerichte, minderheiten- und fremdenfeindliche Politik. Wir können aber auch in Kroatien einiges beobachten, beispielsweise positive Bezugnahmen auf die Ustaša (faschistische Bewegung offiziell bis 1945, Anm.) und Verharmlosung von deren Verbrechen. Auch in der Slowakei, in Tschechien, in Lettland und Estland – um nur einige Beispiele zu nennen – gewinnt nationalistische Politik erneut an Bedeutung. Sie geht von einem ethnisch einheitlich definierten nationalen Raum aus, in dem Minderheiten zunehmend an den Rand gedrängt werden: Das können muslimische Geflüchtete sein, Roma und Sinti, oder Angehörige der russischen Minderheit.
Gibt es ein Muster in Osteuropa, dass diese Tendenzen stärker werden?
Wenn wir so ein Muster feststellen, dürfen wir das nicht auf Osteuropa beschränken: In Österreich, aber auch in Deutschland, Frankreich und anderen westeuropäischen Staaten geben Parteien und politische Bewegungen vor, sich für die «einfachen Leute» einzusetzen, ihre Ängste zu verstehen und die Nation gegen «die anderen» zu verteidigen. Dazu kommen eine starke Feindlichkeit gegen Ausländer_innen, vor allem gegen Muslim_innen, und eine antieuropäische Haltung: An allen Problemen ist dann vorwiegend «Brüssel» schuld.
Abseits davon, ob rechte Parteien in der Regierung vertreten sind: Wie wirken sie sich auf die Gesellschaft aus?
Natürlich haben sie Einfluss auf andere Parteien, immerhin bieten sie einfache Antworten an, etwa zu den Themen Sicherheit und soziale Problematiken und Ängste. Andere Parteien übernehmen dann oft die Sprache der Rechten und deren politische Forderungen, zumindest teilweise. Betrachtet man Wahlergebnisse, rechnet sich das meistens nicht. Aber es führt zu einer Verschiebung: Die Politik insgesamt rückt mehr nach rechts, und auch Alltagsrassismus und Feindlichkeit gegenüber ethnischen und sozialen Minderheiten nehmen tendenziell zu – Beispiel dafür ist etwa die Debatte über die «Bettelmafia».
Wie geht die Zivilgesellschaft mit solchen Tendenzen um? Gibt es Widerstand?
Selbstverständlich. In Polen gab es Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, aber auch gegen minderheitenfeindlichen Nationalismus. In Ungarn gingen Leute gegen das neue Mediengesetz und gegen die Verfassungsänderung auf die Straße. Auch eine Bewegung zum Schutz der Obdachlosen ist aktiv. In Tschechien wurden inakzeptable Äußerungen des Präsidenten kritisiert, in Bulgarien gab es Kundgebungen gegen die wohlwollende Duldung von Bürgerwehren gegen Geflüchtete durch die offizielle Politik. Trotz dieser zivilgesellschaftlichen Proteste herrscht in Westeuropa immer noch das Bild vor, die Zivilgesellschaften Osteuropas seien allesamt schwach und wenig entwickelt.
Woran liegt das?
Osteuropa wird immer noch aus einer Perspektive betrachtet, die von einem hierarchischen Gefälle bestimmt ist, auch nach den EU-Erweiterungen seit 2004. Es gibt die Vorstellung, dass alles, was früher einmal hinter dem Eisernen Vorhang war, kaum Erfahrung mit Demokratie hat. Wenn wir uns das historisch anschauen, sehen wir etwa am Beispiel der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918–1938), dass das so nicht stimmt. Osteuropa wird außerdem oft als einheitlicher Raum gesehen. Auch das ist falsch – gerade in Hinsicht auf die Zeit der kommunistischen Herrschaft. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand in Ungarn, Jugoslawien, der DDR, in Rumänien oder in der ehemaligen Sowjetunion gelebt hat. Und es kommt auch darauf an, von welchem Zeitraum wir konkret sprechen. Da fehlt oft die Bereitschaft zur Differenzierung. Ich denke, die West-Ost-Grenze in den Köpfen ist noch lange nicht weg.