Herr Groll auf Reisen. 315. Folge
Der Dozent und Herr Groll waren auf dem Weg zu Grolls Kanzlei beim Heurigen Binder in Groß-Jedlersdorf. Den Dozenten hatte das Ausscheiden der Grünen aus dem Parlament tief getroffen, demokratiepolitisch sei das ein herber Verlust, klagte er. Er verstehe die fahrlässige Ignoranz der grünen Parteiführung nicht. «Wie konnte es nur so weit kommen!», rief er aus.
Foto: Mario Lang
Venedig folgt dem Trend zum Kleinstboot
Vieles sei ja schon abgehandelt worden, erwiderte Groll. Der Ausschluss der Parteijugend, das Pilz-Fiasko, der Rücktritt von Geschäftsführer und Parteivorsitzender zur Unzeit und anderes mehr, sagte Groll. Es lohne sich aber, die Ursachen schon bei der Gründung der Grünen zu suchen.
«Vor dreißig Jahren war ich Augenzeuge bei der Listenerstellung der Wiener Grünen und erlebte damals, wie wenig demokratisch die Listenerstellung ablief. Es galt der Grundsatz, dass jede und jeder Anwesende, unbeschadet einer Mitgliedschaft bei den Grünen, für einen Kandidaten, eine Kandidatin stimmen konnte. Christoph Chorherr, damals Lektor an der Wirtschaftsuniversität, hatte es am einfachsten, er brachte einige Dutzend seiner Studentinnen und Studenten mit, die Chorherr einen sicheren Listenplatz bei den Grünen verschafften. Chorherr war damals schon ein schlauer Fuchs.»
«Die Schlauheit scheint sich zur Geschäftemacherei weiterentwickelt zu haben», warf der Dozent ein. «Dass Chorherr, der an entscheidender Stelle in der Wiener Baubehörde sitzt, seinen karitativen Verein in Südafrika durch horrende Summen von Baukonzernen und Immobilienhaien fördern lässt, zeugt von einem recht saloppen Verständnis von politischer Unbestechlichkeit.»
Groll nickte und fuhr in seiner Erzählung fort: «Die junge Madeleine Petrovic hielt eine holprige, aber leidenschaftliche Rede für den Tierschutz und hatte ebenfalls nicht vergessen, für einen ausreichend großen Anhang zu sorgen. Theoretisch wäre es auch den behinderten Anhängern Manfred Srbs möglich gewesen, eine ähnlich große Unterstützerschar zu mobilisieren, aber wer je erlebt hat, wie zeitaufwendig und schwierig es ist, auch nur zehn Menschen im Rollstuhl an einen Ort zu bringen, wird wissen, dass die abstrakte Gleichheit in Wirklichkeit eine praktische Ungleichheit ist. Auch der Schriftsteller Gerhard Ruiss ritterte damals um die vorderen Plätze, er bewies menschliche Größe und verzichtete zugunsten Manfred Srbs auf einen vorderen Listenplatz. Der Sozialarbeiter war damals ein führender Aktivist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen, die sich aufgemacht hatte, die Kämpfe ihrer Kolleginnen und Kollegen aus Kalifornien und Schweden um Gleichberechtigung und Selbstvertretung auf österreichische Verhältnisse auszudehnen. Erstmals traten behinderte Menschen in der Politik als Experten in eigener Sache auf, sie wechselten vom Objekt des Sozialstaats in die Rolle von Kritikern einer reaktionären ‹Licht ins Dunkel›- Almosenpolitik. Und das alles für eine Gruppe von Menschen, die fünfzig Jahre zuvor von den braunen Herren zu Zehntausenden totgespritzt, erschlagen und vergast wurden.»
«Worüber sich heutzutage Hochschulfunktionäre der Jungen ÖVP lustig machen», unterbrach der Dozent.
«Als Manfred Srb abtrat und später die Weichen für seine Nachfolgerin Theresia Haidlmayr stellte, war – nach anfänglichen Querelen – bald klar, dass die behinderten Menschen in diesem Land bei den Grünen einen sicheren Hafen hatten», setzte Groll fort. «Unter Manfred Srb und während der dreizehn Jahre, die Theresia Haidlmayr im Nationalrat die Interessen der behinderten Menschen vertrat, war es immer wieder der Grüne Klub, der in zentralen behindertenpolitischen Fragen wie bei der Erkämpfung und Verteidigung des Pflegegelds, der Durchsetzung eines Lebens mit persönlicher Assistenz, bei der politischen Selbstvertretung und Förderung von Menschen mit Lernschwierigkeiten und bei den Debatten um ein Anti-Diskriminierungsgesetz wirksame Unterstützung gab.»
»Die Grünen und die autonomen Behinderten, eine beispielhafte minoritäre Allianz. Wahrlich eine revolutionäre Haltung», sagte der Dozent.
«Die auch heute nichts von ihrer Dringlichkeit verloren hat», erwiderte Groll. «Entgegen dem Trend in allen Industriestaaten und in eklatanter Verletzung der UN-Behindertenkonvention wird die kommende Kurz-Strache-Regierung Sonderschulen nicht abschaffen, sondern ausbauen. So züchtet man zehntausende Randexistenzen, Ausgegrenzte, Almosenempfänger.»
«Der Wahrheit die Ehre zu geben, muss man aber hinzufügen, dass auch die SPÖ nichts für die Auflösung der Sonderschulen und die Inklusion behinderter Kinder in den Regelschulbetrieb – wie es in Südtirol seit vierzig Jahren beispielhaft funktioniert – getan hat.»
Nicht nur aus diesem Grund dürfe man die SPÖ keinesfalls als Oppositionspartei ansehen, erwiderte Groll. «Sie wurde nach entwürdigenden Anbiederungsversuchen des Gewerkschaftsflügels an die FPÖ kalt lächelnd ausgebootet, das ist alles. Es ist daher nicht übertrieben, von einem Parlament ohne reale Opposition zu sprechen.»
Die beiden waren beim Binder-Heurigen angekommen. Der Dozent öffnete das grüne Holztor und wartete, bis Groll an ihm vorbeigefahren war.