Die Heimat ist selten ein StaatsgebietArtistin

Anna Kims antimythische Literatur

Anna Kim schreibt Bücher, um Zahlen zu entneutralisieren: Sie erzählt die Geschichten hinter der Geschichte. Bei den Europäischen Literaturtagen in Krems wird sie zu hören sein. Veronika Krenn hat mit ihr über die vielen Möglichkeiten einer Heimat gesprochen, hat nach den Büchern gefragt, die sie schreibt, und nach denen, die sie liest.

Foto: Roland Dreger

«Sind wir Grenzwesen, haben wir immer und überall Grenzen, und haben wir nach keiner Richtung hin eine Grenze, so ist das Überschreiten alter und Abstecken neuer Grenzen eine Bestimmung», schreibt Anna Kim in ihrem Debütroman «Die gefrorene Zeit» (2008, Droschl). Es fasziniert Anna Kim, «wie das Leben von grundsätzlich eher unpolitischen Individuen durch politische und geopolitische Entwicklungen komplett auf den Kopf gestellt wird». Das sei zurzeit in Europa durch die flüchtlingspolitische Krise zu beobachten. Sie selbst empfand, als Jugendliche und Studentin, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien als eine solche Entwicklung. In ihrem Debütroman entneutralisiert sie die statistischen Zahlen, die das Leid in diesem Krieg bezifferten. Sie folgt einer Geschichte, wie sie vielfach geschehen hätte können: Sie erzählt in berückender Sprache von einem Kosovaren, der nach seiner entführten, nun verschollenen Frau sucht. Gefangen in Erinnerung und Hoffnung gleichermaßen, entfernt er sich immer mehr aus dem Leben. In ihren Büchern «Invasion des Privaten» und «Anatomie einer Nacht» griff Kim ausgehend von Grönland die Geschichte europäischer Staaten als Kolonialmächte auf. 2015 publizierte sie mit «Der sichtbare Feind» einen Essay zur Überwachung.

Hört auf, von gesellschaftlicher Monokultur zu träumen

Die Europäischen Literaturtage, von 22. bis 25. Oktober in Krems und Spitz, stehen heuer unter dem Thema «Die Ausgewanderten», benannt nach einem Erzählband von W.G. Sebald. Anna Kim wird dabei auf dem Panel «Europa! Europa!» (22. 10., 19.30 Uhr) vertreten sein. Die Veranstaltung reflektiert, wie sich die europäische Gegenwartsliteratur durch Zuwanderung von Autor_innen von außerhalb Europas entwickelt. 1977 in Südkorea geboren, übersiedelte Anna Kim mit ihren Eltern im Alter von zwei Jahren nach Deutschland, seit 1983 lebt sie nun – mit Unterbrechungen – in Wien. «Im Grunde glaube ich nicht, dass meine Zweisprachigkeit mein Schreiben beeinflusst hat», sagt sie, «Koreanisch ist mit Kindergarten-Beginn von mir sträflich vernachlässigt worden.» Das Ursprungsland ihrer Eltern, in dem sie geboren wurde, aber nicht aufgewachsen ist, übt einen Reiz aus: «Die Geschichte (ganz) Koreas ist faszinierend und liest sich wie ein Thriller. Und es gibt koreanische Wörter und Gerüche, bei denen ich sentimental werde. Aber würde man mich fragen, ob ich bei einem Fußballmatch Südkorea zujubeln würde, würde ich wohl eher verneinen.» Anna Kim meint, die «individuelle Heimat» sei selten ein monokulturelles Staatsgebiet. Oft finde man Heimat dort, wo man sie nie erwartet hätte: «Ich zum Beispiel im Osten Grönlands oder in den Highlands in Schottland.» Das, obwohl sie Österreich, vor allem Wien, als ihre eigentliche Heimat bezeichnen würde – weil sie immer wieder gerne zurückkommt.

Als ihre derzeitige Lieblingsautorin nennt Anna Kim Virginia Woolf. Bücher, die sie überallhin mitnehme, seien etwa Ludwig Wittgensteins «Philosophische Untersuchungen» oder Georg Simmels «Lebensanschauung». Koreanische Literatur lese sie selten, denn nur wenige Romane seien übersetzt worden: «Um sie im Original zu lesen, bräuchte ich sehr viel mehr Zeit, als ich habe». Und Übersetzungen würden oft dem Original nicht gerecht. Das liege zum Teil daran, dass die Übersetzer_innen meinen, sie müssten auch die Funktion von Ethnolog_innen übernehmen und möglichst «kulturgetreu» übersetzen. «Das tut dem Buch oft nicht gut.»

Jetzt gerade arbeitet die 38-Jährige an einem politischen Roman, der seinen Ausgangspunkt in Südkorea, Japan und Nordkorea der 1950er Jahre hat. Hauptthema ist die Verfolgung der Kommunist_innen in Südkorea, die man, so Kim, eigentlich «vermeintliche Verfolgung von Kommunisten» nennen müsste. Denn in den meisten Fällen waren die Menschen, die verhaftet, gefoltert und zum Teil hingerichtet wurden, gar nicht kommunistisch, sondern etwa Gewerkschafter_innen, Student_innen und Intellektuelle, die gegen die Regierung protestierten. Mit großer Besorgnis nimmt Anna Kim auch die europäische Migrationspolitik wahr. Begriffe wie «Asyl-Tourismus» oder «Völkerwanderung» stimmen sie nicht gerade hoffnungsvoll: «Das spiegelt nur die erschreckende Tatsache wider, wie wenig hilfsbereit und solidarisch ein nicht gerade kleiner Teil der EU-Bürgerinnen und Bürger ist.» Europäerinnen und Europäern müsse es klar sein, «dass es die kulturelle Homogenität und ‹Reinheit›, die rechtsnationale Parteien gewahrt sehen wollen, indem sie eine Politik der Ausgrenzung der Fremden betreiben, nie gab und nicht geben kann.» Bei dieser «kulturellen Reinheit», handelt es sich um einen Mythos, sagt Anna Kim: Gerade Österreicher_innen sollte das klar sein.

Europäische Literaturtage 2015

22.–25. Oktober (Krems/Spitz)

www.literaturhauseuropa.eu

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