Neue Bewegung in Sachen Nulltarif - und die Pioniere der Gratis-Linie D:
Für alle, die aus sozialen Gründen schwarzfahren, und für deren LobbyistInnen sorgten zwei Meldungen dieses Frühlings zunächst für Euphorie: Der Wiener SPÖ-Landesparteitag hatte den SJ-Antrag nach Freifahrt für Obdachlose und SozialhifeempfängerInnen mit Mehrheit beschlossen; Bürgermeister Häupl reagierte mit der kolportierten Erklärung, der Nulltarif werde noch heuer umgesetzt.Den darüber berichtenden JournalistInnen wäre keine Perle aus der Krone gefallen, hätten sie die rebellischen Augustin-VerkäuferInnen erwähnt, die seit 1998 mit demonstrativen Gruppenschwarzfahrten und anderen Aktionen die Öffentlichkeit erstmals auf ein aberwitziges Verhältnis aufmerksam machten: Von Obdachlosen in Wiener Öffis wird Volltarif verlangt, da eine Ermäßigung (analog den Pensionistentarifen) nicht administrierbar sei.
Dass Michael Häupl die Freifahrt noch heuer realisiere, war offensichtlich eine vorschnelle Interpretation der Austria Presse Agentur, die von vielen Medien übernommen wurde. Die inzwischen allenthalben korrigierte Sprachregelung ist enttäuschend. Das Rathaus werde dem Parteitagsbeschluss 252 Stimmen für, 204 Stimmen gegen den SJ-Antrag – gerecht, indem eine Arbeitsgruppe gebildet werde. Das Resultat müsse aber nicht unbedingt die Freifahrt für SoziahilfeempfängerInnen sein. Man könne auch Abfederungen anderer Art andenken. Auch von heuer ist mittlerweile nicht mehr die Rede. Vor dem nächsten Landesparteitag werde es zu einer Neuregelung kommen, heißt es nun.
Eine doch deutliche Verwässerung der Zielsetzung, die die Sozialistische Jugend nicht hinnehmen werde, wie deren Sprecher Stefan Schmid im Augustin-Gespräch bekräftigte. Nachdem man uns im Jahr 2001 erklärte, eine Arbeitsgruppe sei gebildet worden, informiert man uns heute, als Folge des Parteitagsbeschlusses werde eine Arbeitsgruppe gebildet, fühlt sich Stefan Schmid leicht gefrozzelt. Aus Augustin-Sicht stellt sich diese Hänselei um eine Nuance erweitert dar. Bereits 1999 hat nämlich die damalige Finanzstadträtin Brigitte Ederer den Augustin mit der Botschaft zu beruhigen versucht, sie habe eine Arbeitsgruppe zur Neuregelung von Sozialtarifen einberufen. Die heiße Luft, die diese (fiktiven? tatsächlichen? semirealen?) Arbeitsgruppe(n) im Laufe der acht Jahre produzierten, ist hoffentlich nicht die Ursache der Erderwärmung.
Der SJ-Sprecher anerkennt die Rolle des Augustin und seiner VerkäuferInnen bei der Bewusstmachung einer sozialpolitischen Absurdität ersten Ranges. Dass es nun in der Nulltarif-Frage doch nicht ganz zu dem späten Triumph des Gerechtigkeitssinns kommen wird, wie ihn die allerersten Verlautbarungen erwarten ließen, schmälert nicht den Stellenwert, den die Ansätze einer Art Sandlergewerkschaft als solche hatte man die seit Ende des Jahres 1998 regelmäßigen Interventionen der Augustin-Verkäuferinnen wahrnehmen können in der politischen Kultur der Stadt einnehmen. Wie nach ihm der Flüchtlingsbetreuerin Ute Bock, die auf den Skandal der Verschuldung einkommensloser AsylwerberInnen durch die Wiener Linien aufmerksam machte, waren dem Augustin-Verein schon in den ersten Jahren seines Bestehens zwei Gruppen von Verarmten aufgefallen: mehrfach ertappte SchwarzfahrerInnen, die die Polizeistrafen ohne viel Aufhebens im Polizeigefängnis absaßen und die Zahlungsaufforderungen der Wiener Linien und der Inkassobüros nicht einmal ignorierten, weil sie ohnehin nichts zu verpfänden hatten, und mehrfach ertappte SchwarzfahrerInnen, die den wachsenden Schuldenberg als persönliche Katastrophe betrachteten, weil er dem so ersehnten Wiedereinstieg in die Welt der Erwerbsarbeit im Weg war: Die zu erwartende Gehaltspfändung stempelt jeden zum Vollidioten, der auf eine Reintegration in Gehaltsverhältnisse abzielt.
(Fast) immer bis zum Rathaus
Ermutigt durch die ersten Aktionen einer Gruppe von zwei bis drei Dutzend Augustin-VerkäuferInnen und Augustin-MitarbeiterInnen, die sich die vom Südbahnhof (traditioneller Obdachlosentreff!) zum Rathaus (Adressat der Nulltarifs-Forderung) führende Tramwaylinie D zum rollenden Schauplatz von Spaßguerilla-Aktionen erwählten, kündigte der Augustin 1999 an: Wir erklären den 13. jedes Monats zum Tag der freien Fahrt! In einem Bericht dazu hieß es: Die demonstrative, gesellige und polizeilich angemeldete Schwarzfahrt erregte Aufmerksamkeit. Dass `Sandler in aller Öffentlichkeit für ihre Rechte eintreten, wurde als Wiener Novität wahrgenommen.
Manchmal wurden die listigen Habenichtse, die zwar mit Augustin-Ausweis, aber ohne Fahrschein die Linie D benutzten, von solidarischen Musikern begleitet, etwa vom Trio des Kollegium Kalksburg oder von Adi Hirschal; einmal hatten sie 5000 Unterschriften unter einer Petition als Fahrgepäck in Richtung Rathaus mit. Der Augustin schrieb: Solange die Ärmsten für die Bim mehr zahlen müssen als die weniger Armen, verletzt das Wiener Tarifsystem den Gleichheitsgrundsatz. Das sagte die Sandlerdelegation der Finanzstadträtin, als im Anschluss an die Schwarzfahrt die Petition überreicht wurde. Brigitte Ederer erzählte den DemonstrantInnen etwas von einer von ihr eingesetzten Arbeitsgruppe…
Einer der ersten Konzerte des Stimmgewitter Augustin fand in einem besetzten Waggon der Straßenbahnlinie D statt. Dieser Auftritt sollte aber bloß das Präludium zum anschließend geplanten Ständchen für den Bürgermeister sein, doch zu Michael Häupl vermochte die Freifahrt-Gruppe an diesem wie auch an den anderen Aktionstagen nicht durchzudringen. Einmal spendete der Sozialreferent des Bürgermeisters eine politisch korrekte Kiste Mineralwasser für die im Rathaus eintreffende Obdachlosen-Delegation, die an diesem heißen Tag wie e i n Mann nach kühlem Bier lechzte. Weil bereits im Jahr 2000 ein Landesparteitag der Wiener Sozialdemokraten beschlossen hatte, Obdachlosen die Benützung der Öffis in einem für sie finanziell leistbaren Rahmen zu ermöglichen, und weil auch damals nichts geschah, um diesen politischen Auftrag zu erfüllen, bogen die D-Wagen-BesetzerInnen eine Tages, nachdem sie das Verkehrsmittel bei der Station Burgtheater verlassen hatten, nicht nach links zum Rathaus, sondern nach rechts zur SPÖ-Zentrale in der Löwelstraße ab.
AsylwerberInnen nicht vergessen!
Hier wie dort war nichts als die Beteuerung zu hören, eine Sonderregelung für Obdachlose oder SozialhilfeempfängerInnen (inzwischen gibt es deren 80.000 in Wien!) sei nicht administrierbar in immer neuen Variationen. Nach rund zehn Tagen der freien Fahrt machte sich unter den AkteurInnen Frust bemerkbar auch deshalb, weil jeder Ressortchef im Rathaus, der für die DemonstrantInnen persönlich oder in Vertretung erreichbar war, das jeweils andere Ressort für eigentlich zuständig erklärte. Der Augustin-Volksbrauch, jeden Dreizehnten mit der Linie D zum Ort der Entscheidungen zu fahren, blieb ein temporäres Experiment der Partizipation von bisher Ausgegrenzten und Lobbylosen; aus ihm wurde jedoch die F13-Idee geboren. Seither wird jeden Freitag, den Dreizehnten für die Rechte marginalisierter sozialer Gruppen demonstriert; es sind längst nicht mehr bloß Leute aus dem Augustin-Umfeld, die das tun; und wann immer die Freifahrt zum Thema wird, ist für die AktivistInnen die Einbeziehung der AsylwerberInnen in den Kreis der Nulltarif-Anwärter zur Selbstverständlichkeit geworden.
Auch für die SJ, so deren Sprecher Stefan Schmid, wäre der Nulltarif für AsylwerberInnen (die heute wider jede Logik den Volltarif zahlen müssen) ganz im Sinne des Parteitagsbeschlusses. Die Wiener Grünen haben dieser Tage die Idee des Wiener Aktiv-Passes vorgestellt: freie Fahrt bei Öffis, Bildung, Kultur und Freizeit. Bei einem Sozialhilfe-Richtsatz von 427 Euro kostet die Vollpreis-Jahreskarte 458 Euro – quasi ein gesamtes Monatseinkommen, rechneten die Grünen vor. Der Sozialpass die derzeit einzige Ermäßigung, die die Stadt Wien sozial benachteiligten Menschen gönne atme nicht nur den stigmatisierenden Geist der 70er Jahre, er komme auch nur einem Bruchteil derjenigen zugute, die ihn nötig hätten: Den Sozialpass und somit eine vergünstigte Monatskarte erhalten nur jene SozialhilfebezieherInnen, die eine Dauerleistung erhalten. Von insgesamt 80.000 Menschen, die im Jahre 2005 Sozialhilfe bezogen haben, sind das ganze 5 Prozent.
Um das öffentliche Bewusstsein sensibel für diesen Fall von krassem Unrecht zu machen, braucht es noch viele Ideen der Argumentation und der Aktion. Die Heroes der Tage der freien Fahrt, die Wiener StraßenzeitungkolporteurInnen und ihre UnterstützerInnen, waren die ersten, die den Versuch einer zwar provokanten, dabei aber immer mit Wiener Schmäh operierenden Methode von Vermittlung der Interessen starteten. Sie haben Mittel entdeckt, den Anliegen der Schwächsten Gehör bei jenen zu verschaffen, die sich auf z.T. illusorische Weise noch sozial abgesichert fühlen.