Die Hüte meines Vaterstun & lassen

Der Gastarbeiter der ersten Generation erinnert sich an ein schönes Wien

Vater.jpg„Briefe an den Vater“ heißt eine Monatskolumne unseres Mitarbeiters Mehmet Emir. Es sind fiktive Briefe des in Wien gebliebenen Sohnes nach Elazig, wohin der Vater nach 30 Gastarbeiterjahren in Österreich zurückgekehrt ist. Im Sommer hat Mehmet seine Familie im Osten der Türkei besucht. Der Adressat der Serienbriefe wird durch Mehmets Notizen aus der alten Heimat „greifbarer“. Wie lebt einer, der von sich sagen kann, er habe die Straßen Wiens gebaut?

Es ist ein schöner Tag. Wir alle haben die heilige Stätte oberhalb des Dorfes besucht. Ein alter Baum neben der heiligen Wasserquelle, der hunderte Jahre alt ist, ist vor einem Jahr einem Brand zum Opfer gefallen. Da der Baum an einem heiligen Ort steht, werden die Reste von den Besuchern nicht als Brennholz mitgenommen. Es gibt in der Nähe des heiligen Ortes auch Nadelbäume. Es ist eine sehr steinige Gegend. Der Himmel ist blau, aber wie!

Mit meinem Cousin aus Deutschland gehe ich zu Fuß in Richtung heilige Quelle. Mein Vater, meine Mutter, die Onkel und viele Cousins und Cousinen sind mit Traktor und Auto zur geweihten Stätte gefahren. Aus dem Gemüsegarten nehmen mein Cousin und ich einige Tomaten und Wasser-Zuckermelonen mit. Es ist sehr heiß. In der Mittagshitze zu Fuß unterwegs zu sein habe ich mir leichter vorgestellt. Ein kleiner Ziegenbock wurde für einen Cousin, der ebenfalls in Deutschland lebt, geopfert. Er hatte Krebs. Den Krebs hat er besiegt. Einige Operationen musste er über sich ergehen lassen. Das Blut des Tiers für den in der Ferne lebenden Verwandten floss auf Erde und Steine.

Mein Vater war seit langem nicht an dieser heiligen Stätte. Das Wasser ist sehr kalt. Wir ziehen die Socken aus. In das kalte Wasser stecken wir unsere Füße. Nicht einmal eine Minute lang können wir die Füße ins Wasser halten. Trotz der Hitze ist das kalte Nass nicht auszuhalten. Mein Vater ist der Meinung, dass das Wasser der heiligen Stätte Heilwirkungen hat.

Bevor wir ins Dorf zurückfahren, redet mein Vater über die Trockenheit, unter der sein Weingarten leidet. Er redet über seinen Garten. Ich versuche, seine Interesse für Wien die Stadt, in der er 30 Jahre gelebt hat zu wecken. Er sagt: Wien ist eine schöne Stadt. Ein Stadt voller Straßen, die e r gebaut hat. Er spricht immer wieder davon, wie er sich durch das Arbeiten in Österreich in der Türkei ein schönes Leben leisten kann. Er zeigt seine Dankbarkeit. Ohne das Arbeiten in Österreich habe er seinen Kindern keine gute Ausbildung in der Heimat bieten können.

Soldaten kontrollieren uns wie eine Besatzungsmacht

Er arbeitet in seinem Weingarten außerhalb der Stadt in der Nähe des Keban-Staudamms immer noch. Obwohl er schon 74 Jahre alt ist, arbeitet er immer noch.

Mit meiner Mutter versteht er sich sehr gut im Gegensatz zu den ersten Jahren seiner Pension. Ich habe vor, ihn mit seinem ehemaligen Freund und Arbeitskollegen aus Wien zusammenzubringen. Einen Dokumentarfilm möchte ich über meinen Vater und seinen Freund machen. Die Mütter möchte ich auch zusammenbringen.

Wir fahren in der Früh von Elazig los. Unterwegs fahren wir an Vaters Weingarten vorbei. Er jammert über die Hitze und dass es heuer wenig geregnet habe. Viele seiner Obstbäume hätten den Geist aufgegeben. Ich spüre, er ist nervös. Er erzählt über den Freund. Bei wie vielen Firmen er in Österreich gearbeitet habe. Er zeigt uns Stellen, wo es Unfälle gab. Auch Menschen neben ihm gestorben sind. Bis zum Staudamm fahren wir. Mit einer Fähre müssen wir ihn überqueren. Die Überfuhr dauert eine halbe Stunde. Mein Vater redet ununterbrochen. Die Begegnung, obwohl der ehemalige Wiener Arbeitskollege in der Nähe wohnt, kam bis jetzt nicht zustande. Der Freund lebt immer noch vier Monate im Jahr in Wien, die restliche Zeit verbringt er in seinem Dorf. Seine sechs Kinder hat er mit nach Wien genommen.

Auf der anderen Seite des Staudamms kontrollieren Soldaten die Ausweise der Menschen. Die Nummerntafel der Autos werden aufgeschrieben. Als würden wir in ein fermdes Land einreisen!

Wir fahren nach dieser Kontrolle noch 40 Minuten. Wir nehmen eine Abzweigung und landen wieder bei einem militärischem Kontrollpunkt. Einen Soldaten, der sich hinter einer Barrikade in Stellung hielt, fragen wir nach dem Dorf, in das wir wollen. Ziemlich erschrocken, gestikulierend deutet er uns, wir sollen einfach weiterfahren. Man sah ihm seine Angst an. Er stellte sich vor, wir könnten ohne weiteres Angehörige einer terroristischen Organisation sein.

Das Dorf war gleich gegenüber diesem Militärkontrollpunkt. Wie viele andere Dörfer in dieser Region hatte eben auch dieses Dorf Besatzungstruppe bekommen. Ich erkenne den Freund meines Vaters. Seine Haare und sein Schnurrbart sind gefärbt. Er macht immer noch einen sehr jugendlichen Eindruck. Wir halten an. Er steigt ein, zeigt uns den Weg zu seinem Gemach in diesem Dorf. Sein Haus steht auf einem Hügel. Ein für einen Gastarbeiter passendes Bauwerk für diese Gegend. Oder besser gesagt, für das Dorf. Mein Vater und er begrüßen sich herzlichst. Während wir zu ihm fahren, filme ich die beiden. Seine Frau ist im Haus. Wir werden hineingebeten. Mein Vater hat seine schönsten Sachen an. Vielleicht will er so seinen Freund einen Hauch von Wien spüren lassen. Mein Vater war sein Fotograf in Wien. Er fotografierte seinen Freund in den schönsten Posen für die Familie zu Hause in der Türkei. Diese Fotos sah ich in den Wohnungen seiner Kinder in Wien. Es waren die Fotos, die das tolle Gastarbeiterleben in Europa vorgaukeln sollten.

Die Frauen werden immer trauriger

Die Willkommenszeremonie dauert. Meine Mutter unterhält sich auf Kurdisch mit der Frau des Freundes. Sie werden von mir gefilmt. Wann und wie und warum sie nach Österreich gefahren seien, frage ich sie. Warum Österreich? Ob es für sie beiden nicht besser gewesen wäre, wenn sie nicht so viele Jahre in Österreich verbracht hätten. Die beiden Frauen setzen sich mit einer dritten, dessen Sohn auch in Österreich ist, auf den Balkon. Von der Stelle aus kann man das ganze Dorf, den Militärkontrollpunkt und die Berge sehen. Während mein Vater mit seinem Freund redet, unterhalten sich die Frauen mit traurigen Minen. Sie werden immer trauriger. Die Zeit der Jugend, die sie als Bräute der Gastarbeiter mit vielen Kindern bei ihren Schwiegereltern verbracht haben, hat Spuren hinterlassen.

Das Essen wird von der Frau zubereitet. Währenddessen nimmt der Gastgeber meinen Vater mit, zeigt ihm das Haus. Da er seinen Stolz hat, nimmt er Vater in den Garten mit. Er zeigt ihm die verschiedenen Obstbäume, die er eigenhändig gepflanzt hat. Die Gemüsebetee zeigt er ihm auch. Mein Vater bestätigt ihn, wie toll er das Ganze eingerichtet habe! Wir werden wieder hereingebeten. Unser Aufenthalt dauert drei Stunden.

Es ist Nacht. Die Straßenköter der Stadt bellen. Der Trafo der Straßenlaterne vor unserem Haus ist sehr laut. Meine Eltern und mein Bruder, mit dem ich im gleichen Zimmer bin, schlafen. Es sind nur noch ein paar Tage, dann fliege ich weg in meine Stadt. Nach Wien. Viele von den Hüten meines Vaters, die er in all den Jahren in Wien am Flohmarkt gekauft hat, sind schon speckig geworden. Manche durch das Tragen beim Arbeiten in seinem Weingarten, andere durch ihre Benützung im Alltag. Er trägt diese österreichischen Hüte stolz, nicht ahnend, welche österreichischen Symbole er mit in seine Heimat transportiert hat. In den türkischen Kaffehäusern erscheint er einmal mit Tirolerhut, einmal mit Steirerhut und so weiter. Er repräsentiert das Gastarbeiterbild der 60er und 70er Jahre. Mich würde die Reaktion der Wiener interessieren, wenn ein türkischer oder kurdischer Gastarbeiter ein typisches Wiener Gasthaus mit ihrer nationalen Kopfbedeckung betritt.

Mein Vater arbeitet noch. Ob er noch einmal nach Wien kommt, um neue Hüte zu kaufen, bezweifle ich.

Ich heiße mich willkommen in Wien