Die Institution macht depressivtun & lassen

Bettlegrigkeit ist (k)ein Delikt, das Entmündigung erfordert

Die 54jährige Verena W. leidet seit 30 Jahren an Multipler Sklerose. Bis zu ihrem 48. Lebensjahr lebte sie zu Hause. Ausschlaggebend für ihre Zustimmung zur Übersiedlung in ein Pflegeheim war das Versprechen: «Hier haben Sie Betreuung rund um die Uhr, es ist immer jemand da für Sie!» Jetzt leidet Verena W. nicht nur an MS, sondern an einer «totalen Institution». Es ist eine bekannte Wiener Langzeitpflegeinstitution, deren Namen wir bei uns behalten denn ihr Aufenthalt soll nicht zusätzlich belastet werden.

«Bis heute habe ich allerdings noch nicht wirklich etwas bemerkt von dieser großartigen Betreuung», schreibt Verena W. in einem langen Brief an den Augustin. Es ist ein Dokument der Entwürdigung von Menschen, die bestraft dafür werden, dass sie wegen ihres Alters oder ihrer Behinderung nicht mehr zu den «Leistungsträgern» gehören. Die Bekannte, die sie privat betreute, hatte von heute auf morgen das Handtuch geworfen. Verena W. musste unverzüglich ihre Wohnung kündigen und zog nahezu ohne ihr persönliches Hab und Gut das hatte ihre Mutter zu sich genommen und an andere verschenkt in das Heim. Ein Probeaufenthalt vor dem endgültigen Beschluss war nicht mehr möglich.

Seit März 2007 lebt Verena W. in einer Großinstitution, die sie zunehmend als feindlich empfindet. «Seit ich hier im Heim bin, werden meine Depressionen immer stärker, da ich es hier hauptsächlich mit dementen und alten Leuten zu tun habe. Ich habe hier keinerlei Entscheidungsfreiheit, werde bevormundet. Von Selbstbestimmung sind wir hier weit entfernt. Ich hätte gerne weiterhin alleine in meiner Wohnung bleiben wollen, eine alternative private Betreuung wäre möglich gewesen. Was mich hier im Pflegeheim gleich zu Anfang wahnsinnig gestört hat, war die Einteilung der Medikamente. Den diesbezüglichen Anordnungen der Frau Doktor war nicht zu widersprechen, was in meinen Augen stark an Entmündigung grenzt. Weiters wurde mir gleich zu Beginn mein Deckenfluter mit 320 Watt vom Haustechniker weggenommen und durch eine kleine Energiesparlampe, die nur sehr schlechtes Licht abgibt, ersetzt. Die Kraft meiner Augen hat sich mittlerweile stark verschlechtert. hat. Auch mein TV-Gerät nahm man mir weg, da er zu groß für mein Zimmer sei. Als Ersatz musste ich mir natürlich auf eigene Kosten einen neuen, kleineren kaufen.»

 

Mit ihrer Wahrnehmung der Entmündigung liegt Verena W. völlig richtig. Die strafvollzugsähnlichen Einschränkungen des Alltagslebens sind aber in den Berichten der Mainstream-Medien kein Thema. Sie zählen nicht zu den spektakulären «Skandalen». Jeder ihrer Schreiberlinge würde sich zurecht aufregen, wenn eine höhere Instanz vorschriebe, welche Beleuchtung zu verwenden sei.

Menschenrecht auf ein wenig Spaß?


Um nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, legte sich Verena W. einen Computer zu immerhin das gestattete man ihr. «Ich kann allein absolut gar nichts mehr, also auch nicht trinken, essen, schnäuzen, Zähne putzen oder viele andere ähnlich alltägliche Dinge. Ich brauche Leute, die mich in den Rollstuhl heben», beschreibt Verena W. ihren Zustand. Strafvollzugsähnlich kann dieser auch deswegen bezeichnet werden, weil «der Spaßfaktor hier herinnen gleich null ist», wie die Patientin sich ausdrückt. «An sämtlichen Weihnachten Vorlesungen von Frau Elfriede Ott das passt überhaupt nicht in mein geschmackliches Konzept! Diese Veranstaltungen sind hauptsächlich auf alte und demente Leute ausgelegt.»

 

Über das Essen schweige sie «aus reiner Höflichkeit», heißt es in dem Brief an den Augustin. Aber dann muss sie doch ein paar Bemerkungen fallen lassen: es schmecke alles gleich, einfach nur fad. Und es gäbe viel zu oft Kohl, Bohnen, Linsen, Kraut. Alles, was blähe, «ideal» also für bettlegrige Patienten.

 

Entgegen dem Versprechen der Rundumbetreuung stellte sich auch der tägliche Stuhlgang als Problem dar: «Da ich meistens erst gegen Abend den gewissen Drang verspüre, zu diesem Zeitpunkt aber niemand mehr Zeit hat, bleibt einem auch nichts anderes übrig als seine Notdurft im Bett zu verrichten.» Die MS-Patientin muss, obwohl sie sich in einem Pflegheim befindet, immer wieder private Helfer_innen zahlen, um die Betreuungsdefizite zu kompensieren. Dafür muss das monatliche Taschengeld von 200 Euro herangezogen werden.

 

Verena W. kommt in ihrer Beschreibung zum Kern der alltäglichen Erniedrigung zur Negierung des Rechts auf Privatheit. «Was ich hier sehr vermisse, ist meine Intimsphäre», schreibt sie. «Es laufen dauernd Leute aus und ein und hören bei Gesprächen zu, die sie nun wirklich nichts angehen. Multiple Sklerose ist kein Grund, mich in einem Heim einzusperren, ohne jegliche Freiheiten. Ich habe nicht einmal die Möglichkeit, mit meinem Lebensgefährten zu kuscheln oder intim zu sein, was auch zu den Menschenrechten gehört.»

 

Nach diesen Schilderungen überrascht es nicht mehr, dass die Krankenkassa der Patientin beim Bezug des Heims den elektrischen Rollstuhl entzog weil ab diesem Zeitpunkt das Heim selbst für die Hilfsmittel zuständig ist. «Ich brauch aber einen Rollstuhl», sagt Verena. Wie soll sie sonst Wohnungen besichtigen? «I have a dream», übertitelte sie ihren «Hilferuf» auf der Startseite ihres Blogs. Sie träumt, die Institution verlassen und wieder in einer eigenen Wohnung leben zu können.

www.verena-weidner.wg.am