Wo Mozart aufhörte, beginnen wir. Ein Gespräch mit Peter Sellars (1.Teil)
Als Peter Sellars anlässlich des Mozartjahres eingeladen wurde, ein groß angelegtes Festival zu leiten, rechnete man wahrscheinlich kaum damit, dass sein Konzept keine einzige Note Mozarts beinhalten würde. Stattdessen plant Sellars ein Projekt im Sinne des visionären Mozart, der am Ende seines Lebens von einer neuen, sozialeren Gesellschaft träumte. Darum wird es Projekte an Plätzen wie Obdachlosenquartieren, Drogenzentren und an den Orten geben, wo die Ärmsten leben. Das hat etwas mit Mozart in Wien zu tun, sagt der wie kaum ein anderer in globalen Dimensionen tätige Regisseur im Augustin-Gespräch.18.00, Cafe Prückel. Pünktlich auf die Minute kommt Peter Sellars an meinen Tisch. Nein, vielmehr schwebt er mir entgegen, als wären wir alte Freunde, die einander nach Jahren wiedersehen. So sehr mich diese Begrüßung an den immer wieder erstaunlichen Kulturunterschied zwischen den USA und Mitteleuropa erinnert, so sehr bin ich gerührt von der Offenheit und Warmherzigkeit, die mir während des gesamten Interviews entgegenströmt. So sieht also ein Enfant Terrible aus. Dieses Attribut (ähnlich nichts sagend wie die Bezeichnung Diva) bekam Sellars nämlich schon in den Achtzigern, als der 1957 in Pennsylvania geborene Regisseur durch seine eigenwilligen Inszenierungen von Sprechtheater und Oper irritierte und international große Beachtung bekam. Mit seinen neuen Sichtweisen in der präzisen Umsetzung klassischer Werke durch Einbeziehung aktueller sozialer und politischer Themen überraschte und verunsicherte er sein Publikum: er liebt es, Inhalten neue Intensität zu verleihen, indem er Geschichten in unerwartete Settings kleidet. Man ging in den Don Giovanni, erwartete Prunk und fand sich vor einer Bühnenbild in Ghetto-Slums wieder.
Für Ihr neuestes Projekt New Crowned Hope laden Sie KünstlerInnen aus der ganzen Welt ein, um Mozarts Werk dort fortzusetzen, wo er aufgehört hat. Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie als Mozartspezialist besonders spannend sein muss, ein so großes Projekt gerade in Wien verwirklichen zu können.
Ja, natürlich. Mozart ist hier sehr arm gestorben, mit jeder Menge Schulden. Er hat am Ende seines Lebens sehr gekämpft und gelitten. Als er 25 war, war er einer der berühmtesten Menschen in Europa. Mit 35 wurde er mitten in der Nacht in einem Massengrab beigesetzt, gemeinsam mit den ärmsten Menschen Wiens. Und niemand war da, nicht einmal seine Frau! Von diesem Ruhm so zu fallen, dass niemand auch nur deinen Namen kennt, ist wirklich arg. Und deshalb muss Wien, wenn es Mozarts Geschichte erzählt, mit denen beginnen, die gelitten haben, deren Schicksale unerwartete, schockierende Wendungen genommen haben. Als Mozart seine Visionen für die Welt öffentlich artikulierte, wurde er unpopulär und konnte keinen Job mehr bekommen. Am Hof ließ man ihn nur mehr Tanzmusik komponieren, nichts für ihn Wichtiges. Also zog Mozart von Stadt zu Stadt in der Hoffnung, Geld zu verdienen und nach Hause zu seiner Familie schicken zu können. Genauso wie viele hier in Wien, die man am Südbahnhof sieht. Diese Erfahrung, Gastarbeiter zu sein, war sehr prägend und intensiv. Ein emotionales Drama, das ihm die Kraft zum Komponieren nahm. Als er dann zurückkam nach Wien, begann er eine Serie von erstaunlichen Stücken, in denen er seine Vorahnung zeigte, wie die Welt sich zwei Generationen später ändern würde.
Das soziale Klima wird kälter in Europa, auch wenn wir zu den Reichsten der Erde gehören. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Kunst sich mehr und mehr mit sozialen Themen befasst. Gerade Obdachlose wurden in letzter Zeit in Wien mehrmals in Kunstprojekte eingebunden.
Sicher, es gibt mehr Obdachlose und Arme. Das ist in vielen Teilen der Welt traurige Realität. In unserer Generation hat sich dieses neue geschichtliche Extrem gebildet. In Los Angeles, wo ich lebe, werden so viele Sozialprogramme eingeschränkt und durch die Globalisierung so viele Arbeitsplätze abgebaut. Es gibt ganze Städte ohne Arbeit. Kunst ist immer ein Spiegel der Gesellschaft, und dieses Bild ist eines der prägnantesten in unserer Gesellschaft: Menschen ohne Arbeit und ohne Platz zum Leben.
Wolfgang Schlags Projekt The Next Vienna soll als Teil ihres Mozart-Festivals neue Annäherungspunkte für ein integratives Verständnis zwischen Generationen, Kulturen und Randgruppen in unserer Stadt knüpfen. Sie machen seit langem künstlerische Projekte in benachteiligten Stadtvierteln und waren sogar gerade in Frankreich, um sich die dortige Situation anzusehen.
Ich mache in L.A. schon seit 15 Jahren solche Projekte. Dort gibt es 60.000 Obdachlose in den Vororten! Das kann man einfach nicht ignorieren. Ich arbeite am liebsten mit einer Theatergruppe namens LAPD (Los Angeles Poverty Department = Los Angeles Armutsabteilung). Sie haben sich in Skid Row, im Herzen der Innenstadt, niedergelassen. Dort schlafen 5.000 Leute nebeneinander am Gehweg! Am Tag suchst du dir irgendeine Schachtel zum Schlafen. Um fünf Uhr morgens kommt die Feuerwehr mit riesigen Schläuchen und spritzt alles ab. Dann sind die Schachteln natürlich hin und du musst am nächsten Tag eine neue suchen. Es ist unglaublich psycho. Die Obdachlosenzentren sind alle in einem Areal konzentriert, sodass die Obdachlosen gezwungen sind, sich in diesem Teil der Stadt aufzuhalten. Die Atmosphäre dort ist sehr gespannt und schwierig. Auch, dass es enorm viele Kinder unter den Obdachlosen gibt, ist in den USA wenig bekannt. Obdachlosenasyle sind oft gefährliche Plätze, wo die Leute nicht unbedingt sein wollen und deshalb lieber auf die Straße gehen. Also macht LAPD in diesen Vierteln Straßentheater mit Obdachlosen. Das sind wunderschöne, künstlerisch sehr anspruchsvolle Performances! Sie schaffen für die Betroffenen eine Art Gemeinschaft, geben diesen einsamen Seelen Platz, wo sie reden können und vielleicht jemand auf sie wartet. Es gibt Struktur im Leben, man kann sich entfalten und darüber reden, wo man im Leben gerade steht.
Wie kann man sich diese Performances vorstellen?
Sie nahmen einen wunderbaren Film von Kurosawa, das war Red Beard. Es handelt sich dabei um einen Film aus den 60er-Jahren, als er noch sozial progressive Filme machte. Dieser Film handelt von einem jungen Arzt in einer Medizin-Uni. Er muss dort ein Praktikum in den Slums absolvieren und ist total enttäuscht, dass er in einem solch schrecklichen Stadtteil arbeiten muss, mit Leuten, die schlecht riechen. Der Film erzählt, was dieser Mann über das Leben lernt, während er Menschen beim Sterben beobachtet. Der junge Mann ändert sich total. Dieser Film ist wunderbar, gespielt von den besten japanischen Schauspielern der Zeit. Du weinst und weinst. LAPD hat diesen Film live nachgestellt. Die Obdachlosen spielten in einer Halle ihres kleinen Heimes. 10 Schauspieler sitzen 20 Zusehern gegenüber, dazwischen ein Fernseher. Plötzlich stehen die Darsteller auf und sprechen die Zeilen in Englisch, exakt in dem Moment, wo sie auch im Fernseher gesprochen werden. Du siehst also den Film gleichzeitig im Fernseher und live auf der Bühne. Sie haben dafür monatelang geprobt, um ganz exakt zu sein. Es ist lustig, aber auch schockierend, sie all diese Ärzte und Kranken und Sozialarbeiter spielen zu sehen. Im Film ist alles sehr tragisch, auf der Bühne ironisieren sie das. Dass sie sich selbst spielen können, ist sehr berührend. Du hast diese sehr unsentimentale Annäherung an die Realität, unglaubliche Shows und eine erstaunliche Sicht aufs Theater. Gleichzeitig ist es für alle Involvierten eine gute Erfahrung. Sie zeigen der Welt, dass sie intelligent sind, diszipliniert, enorm stark und dass sie Sinn für Humor und Selbstironie haben. Gleichzeitig ist ihr Leben sehr ernst. All das an einem Abend ist total stark!
Auch der Augustin hat seinen eigenen Chor. Das ist mittlerweile eine eingeschworene Gemeinschaft.
Das ist ganz in meinem Sinne. Wenn ich meine Projekte mit Obdachlosen in L.A. mache, dann werden die Mitwirkenden erst mal durchgefüttert. Und es gibt einen eigenen Platz, wo sie ihre Familien mitbringen können, um sich satt zu essen. Zuerst sollen sie sich physisch wohl fühlen, dann beginnen wir zu arbeiten. Mir ist am wichtigsten, eine Probeatmosphäre zu schaffen, wo die Leute kommen, sich frei und familiär fühlen und eine großartige, kreative Erfahrung machen können.