Entdeckungen: Félix Bruzzone und Damián Tabarovsky
Félix Bruzzone, Jahrgang 1976, beschäftigt sich als Sohn so genannter «Verschwundener» intensiv mit dem Schicksal von Waisen der Militärdiktatur. Damián Tabarovsky rechnet in seinem neuesten Roman mit der neoliberalen Ära Argentiniens ab. Der Augustin berichtet über zwei junge argentinische Autoren, weil es andere Medien nicht tun.
«Im März 76 verschwand Papa. Im August am 23., um genau zu sein kam ich zur Welt. Und im November [] verschwand Mama.» Mit diesen Worten beginnt Félix Bruzzones Erzählung «Unter Wasser rauchen». So weit, so autobiographisch. Die Eltern des Autors wurden wie 30.000 weitere Menschen von der Militärdiktatur verschleppt und ermordet. Was ist mit seinen Eltern passiert? Waren seine Eltern Kriminelle, wie es manche behaupten? Der kleine Félix wuchs bei seiner Großmutter auf, und es beschäftigten ihn so viele Fragen, über die er mit anderen nicht reden konnte. Und so griff er zur Feder: «Mit dreizehn oder vierzehn begann ich zu schreiben und hörte damit nicht mehr auf», erklärt der Autor im Interview. Bereits in seinem ersten Roman «Los topos» («Die Maulwürfe», 2009) treibt die Suche nach einem vermeintlichen Bruder einen Waisen der Militärdiktatur in den Wahnsinn, ohne dass dieser mit Sicherheit weiß, ob es diesen Bruder je gegeben hat.
Der humpelnde Vergleich
Auch in seinem nun in deutscher Sprache vorliegenden Erzählband «76» sind alle Protagonisten Kinder von Verschwundenen, allerdings in sehr unterschiedlichen Lebenslagen. Da ist ein kleines Kind, das vom Schicksal seiner Mutter aus Dialogen zwischen Tante und Großmutter erfährt, da ist ein etwa zehnjähriger Junge, der einen «Playboy» kaufen muss, um seinen Spielkameraden zu beweisen, dass er auch zu ihnen gehört, obwohl er keine Eltern hat, da ist ein Jugendlicher, der den Hijos der Organisation der Kinder von Verschwundenen nicht beitritt, um die Welt zu verändern, sondern weil er dort ein nettes Mädchen kennenlernt. Und schließlich ist da noch Mota, der sich mit dem Entschädigungsgeld für die Ermordung seines Vaters einen Unimog kauft, um sich mit einem Lieferservice eine wirtschaftliche Basis zu schaffen. Dieser Unimog wird zum Symbol für den Malwinen-Krieg gegen England, durch den die Militärjunta kurz vor ihrem Abgang noch hunderte Rekruten in den Tod geschickt hat.
Félix Bruzzones Sicht auf die Diktatur ist die einer neuen Generation: «Möglicherweise ist es für uns etwas leichter, darüber zu schreiben, weil wir das nicht selbst erlebt haben. Es steht nicht mehr unsere eigene Erfahrung auf dem Spiel, sondern die Erinnerung anderer. Wir arbeiten bereits mit Textoberflächen», erklärt er dem Augustin. Trotz seines Schicksals betrachtet er seine Lebensgeschichte mit erstaunlicher Nüchternheit: «Ein Kind von Verschwundenen zu sein ist wie ein Umstand; als würde man humpeln.» Und so will Bruzzone auch nicht für alle Kinder von Verschwundenen sprechen, da sie eben so verschieden seien wie Menschen, die humpeln würden. Er selbst habe von seiner Umwelt immer eine Art Mitleid verspürt, wobei nicht klar war, ob es ein Mitleid für den Sohn von Verbrechern oder den Sohn von Opfern war. Das Klima habe seiner Meinung nach umgeschlagen, seitdem die Militärs vor Gericht stehen und sich öffentlich für die Ermordungen rechtfertigen.
Die Pathologie des Neoliberalismus
Mit medizinischen Problemen abseits des Humpelns hat Damián Tabarovskys Protagonist Dami in seinem Roman «Medizinische Autobiographie» zu kämpfen. Der Soziologe, der in einem Consulting-Unternehmen arbeitet, erleidet immer knapp vor seinem großen Karrieresprung eine sprichwörtlich schmerzliche Erfahrung: Augenprobleme, ein Bandscheibenvorfall, eine Allergie, ein eingewachsener Zehennagel oder ein seltener Virus lassen ihm stets den Zug vor der Nase davonfahren. Aber was macht Dami falsch? «Er will ein Winner sein. Zu siegen hat aber keinen Sinn. Der Roman führt vor, dass man zum Verlierer wird, sobald man beschließt, ein Gewinner sein zu wollen», erklärt Damián Tabarovsky, der übrigens dem Augustin viel lieber ein Interview gibt als jedem Mainstream-Medium. Gegenüber der österreichischen Zeitung outet er sich als Karl-Kraus-Fan.
Die argentinische Literaturszene hat Damián Tabarovsky mit seinem Buch «Literatura de izquierda» («Linke Literatur») gehörig aufgemischt. Er vertrat darin die These, dass sich viele AutorInnen selbst als politisch links betrachten, in ihrem literarischen Werk jedoch höchst konventionell und konservativ vorgehen. Und damit stieß er eine Reihe hoch angesehener SchriftstellerInnen vor den Kopf. «Wenn Canon oder Volkswagen eine Marketing-Kampagne fahren, dann empört sie das, nicht aber, wenn es ihr eigener Verlag tut», schmunzelt Tabarovsky. Nach einem ersten Aufschrei ist «Literatura de izquierda» zu einem Referenzwerk geworden und in eigenständigen Ausgaben in Brasilien, Chile, Mexiko und Spanien erschienen. Aber wie muss linke Literatur seiner Meinung nach aussehen? Sie müsse ein gesundes Unwohlsein gegenüber dem System ausdrücken: Verlage, Literaturpreise, Medien, Erfolg Und gleichzeitig müsse die Syntax zu einem literarischen Schlachtfeld werden. «Literatur ist nicht revolutionär, wenn sie nicht auch mit dem Text etwas Revolutionäres tut», poltert Tabarovsky.
Um nichts verlegene Verleger
Und so ergießt sich der fiktive Erzähler des Romans «Medizinische Autobiographie» auch in philosophischen, medizinischen und literarischen Diskursen, die wie ein Protest gegen ein utilitaristisches Verständnis von Literatur wirken; Diskurse, die nichts mit den Gedanken des Protagonisten zu tun haben, wie beteuert wird. Diese mit viel Intelligenz ausgestattete Spottlust, diese Musik in der Sprache hat auch Heinrich von Berenberg fasziniert, der sowohl Felix Bruzzone als auch Damián Tabarovsky für das deutschsprachige Publikum entdeckt und bei Tabarovskys Übersetzung selbst Hand angelegt hat. Der Berliner Verleger hatte die beiden bei einer Präsentation kleiner, unabhängiger Verlage kennengelernt. Damián Tabarovsky und Félix Bruzzone machte der Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft im Jahr 2001 nämlich auch zu Kleinverlegern. Nachdem sich die großen spanischen Verlagshäuser aufgrund der Krise aus dem Land zurückgezogen hatten, war wieder Platz für junge, unabhängige Unternehmen. Argentinische AutorInnen mussten nicht länger durch das «Nadelöhr» Madrid, um bekannt zu werden. Als eine Art Guerilla-Taktik beschreibt Tabarovsky das schnelle und flexible Handeln dieser Kleinverlage, die damit stets den Elefanten am Markt zuvorkamen. Nicht nur für bisher kaum bekannte AutorInnen wurde nun Raum geschaffen. Auch die angeblich schwer kommerzialisierbaren Genres «Kurzgeschichte» und «Lyrik» bekamen wieder Aufwind.
Damián Tabarovsky lässt keinen Zweifel daran, dass «Medizinische Autobiographie» eine Abrechnung mit Neoliberalismus und Krise in Argentinien ist. Nicht ohne Grund wurde er nach dem Erscheinen auf Griechisch von vielen griechischen JournalistInnen gefragt, was Griechenland den tun müsse, um nicht zu einem zweiten Argentinien zu werden. Heinrich von Berenberg schlägt in dieselbe Kerbe und vergleicht die künstlerischen Freiheiten, die sich in Argentinien Anno 2001 aufgetan haben mit jenen Spaniens nach dem Franco-Regime oder Ostberlins unmittelbar nach dem Fall der Mauer. Dass der Zusammenbruch wirtschaftlicher Systeme auch zum Ende des Kapitalismus führt, diese Hoffnung dürfen wir uns allerdings nicht machen. Tabarovsky ist sich auch sicher, dass die ArgentinierInnen Carlos Menem nach ein bisschen Kosmetik wieder zu ihrem Präsidenten wählen würden. Denn auch seinem Protagonisten Dami fehlt es an Reflexionsvermögen. Er stolpert wie man im Spanischen so schön sagt immer über dasselbe Bein.
Buchtipps:
Félix Bruzzone: 76. Übersetzt von Markus Jakob.
Damián Tabarovsky: Medizinische Autobiographie. Übersetzt von Heinrich von Berenberg.
Beide erschienen im Berenberg-Verlag 2010.