Die Kirchen der Austrofaschistenvorstadt

Nach der Ermordung von Engelbert Dollfuß wurde ein Staatskult um den Begründer des austrofaschistischen Ständestaates etabliert. Bis heute gibt es in katholischen Kirchen unaufgearbeitete Gedenkstätten und Denkmäler, die Dollfuß als Märtyrer feiern.

TEXT: JULIA SCHÖNHERR
FOTOS: IRMGARD DERSCHMIDT (Christkönigskirche), ALEXANDER KARAIVANOV (Engelbertkirche)

Auf der Hohen Wand steht eine ganz in weiß gehaltene, formal strenge Kirche – ungleich anderen Kirchen der Region. Von der Terrasse vor dem Eingang sieht man an guten Tagen bis zum Neusiedler See. Direkt darunter liegt die Dollfuß-Gedenkstätte. Zwischen verblichenen Plastikblumen befindet sich eine Statue Marias mit dem Leichnam des vom Kreuz genommenen Jesus Christus auf dem Schoß, eine sogenannte Pietà, an der Wand dahinter ist die Inschrift «Sein Leben war Arbeit, seine Sendung war Kampf, sein Wille war Friede: so starb er für Österreich» zu lesen. Es hängt auch ein Gedenkkranz des niederösterreichischen Bauernbundes, die Gedenktafel an der Außenwand preist Dollfuß als Märtyrerkanzler. Das ist die Engelbertkirche, eine von einer Handvoll Gedächtniskirchen, die dem austrofaschistischen Kanzler Engelbert Dollfuß gewidmet wurden.
Ursprünglich war hier nur eine kleine Kapelle zum Bau der Bergstraße auf die Hohe Wand geplant. Doch nach der Ermordung von Dollfuß durch österreichische Nationalsozialisten im Zuge des versuchten Juliputsches 1934 wurde die Kapelle von Architekt Robert Kramreiter zur Engelbertkirche, benannt nach dem heiligen Engelbert von Köln – dem Namenspatron von Dollfuß – als eine Art religiöses Nationaldenkmal umgeplant. «Dieser Ort war die zentrale Gedenkstätte der Dollfuß-Anhängerinnen und -Anhänger», erläutert Lucile Dreidemy, Zeithistorikerin und Autorin des Buches Der Dollfuß-Mythos.

Keine Aufarbeitung.

Heute werde die Gedenkstätte kaum genützt, erzählt Robert Schara, stellvertretender Pfarrgemeinde-Obmann. Die Engelbertkirche, auch Hohe-Wand-Kirche genannt, gehört als Filialkirche zur Pfarrgemeinde Dreistetten, doch die Dollfuß-Gedenkstätte untersteht nicht der Pfarre, sondern wird von einem Patronatskomitee verwaltet. «Am liebsten wäre uns, wenn die Gedenkstätte nicht mehr da wäre», meint Schara. Vor rund zehn Jahren habe der vorherige Pfarrer im Zuge von Reparaturarbeiten die Umgestaltung der Gedenkstätte in einen Urnenraum für die Wandlinger (wie die Bewohner_innen der Hohen Wand genannt werden, Anm.) beantragt, doch das Denkmalamt habe dem nicht zugestimmt. Alle paar Jahre komme die Antifa und besprühe die Kirchenwand, ansonsten gebe es keine Beschwerden über die Gedenkstätte. «Wir haben andere Sorgen und Schwerpunkte in der Pfarre», sagt Schara. Eine Aufarbeitung der Gedenkstätte sei derzeit nicht angedacht.

Dollfuß-Kult.

Die Regierung des christlich-sozialen Bundeskanzlers Dollfuß schaltete 1933 das Parlament aus und etablierte eine Kanzlerdiktatur. Die katholische Kirche pflegte ein besonderes Naheverhältnis zum Dollfuß-Schuschnigg-Regime und gilt als dessen Stützpfeiler. Der Zeithistoriker Andreas Suttner dazu: «Hohe religiöse Würdenträger waren bei staatlichen Feierlichkeiten mit Einweihungen und Eröffnungen vertreten.»
Nach dem Tod von Dollfuß sei ein Staatskult um seine Person aufgebaut worden, der den Zweck gehabt hätte, seinen Nachfolger Kurt Schuschnigg und den Heimwehrführer Ernst Rüdiger Starhemberg politisch zu legitimieren, so der Zeithistoriker. Seine Kollegin Lucile Dreidemy spricht davon, dass «Dollfuß zum Nationalheiligen erhöht, dass ein austrofaschistischer Führerkult als Gegenstück zu den Nationalsozialisten in Deutschland und zu Mussolini in Italien geschaffen wurde». Die Christkönigsideologie nehme hier eine besondere Rolle ein, durch die Österreich als Erbträgerin des alt­österreichischen katholischen Reiches inszeniert worden sei. Dazu kam eine Sakralisierung von Dollfuß, der in Form des heiligen Engelbert von Köln in den kirchlichen Ritus eingebunden wurde. Sein Porträt war omnipräsent. «Diese Verflechtung zwischen Kirche und Staat schlug sich im Bau von Dollfuß-Gedächtniskirchen, -kapellen und -kreuzen nieder, die als Kulisse für politische und kirchliche Veranstaltungen im Dollfuß-Schuschnigg-Regime dienten», erklärt Andreas Suttner, «so ist zum Beispiel noch heute in der Turmkapelle der Michaelerkirche ein Dollfuß-Relief zu sehen. Die Kirche fungierte zudem als Mobilisierungskraft der Massen, da die Einheitspartei Vaterländische Front wenig Rückhalt in der Bevölkerung hatte.»

Gegenbewegung zum Roten Wien.

Der Kirchenbau florierte in der Zeit der Kanzlerdiktatur von 1933/34 bis 1938. «Das ist als Gegenbewegung zum Roten Wien zu verstehen, wo nur wenige Kirchen gebaut wurden», erläutert die Kunsthistorikerin Inge Podbrec­ky. Nach der Machtübernahme der Austrofaschisten wurden sogenannte Notkirchen in Bauten des Roten Wien eingerichtet, wie etwa im Gemeindebau Sandleitenhof, um einerseits die seelsorgerische Versorgung der Wiener Bevölkerung zu gewährleisten und andererseits eine Rechristianisierung der Arbeiter_innen zu erreichen. Die Gotteshäuser wurden von der Kirche selbst meist mittels Spendensammlungen finanziert und von Seite der Stadt mit Grundstücken und niedrigem Mietzins begünstigt, erklärt Podbrecky.
Robert Kramreiter, der viele Kirchen entwarf, kam während seiner Zusammenarbeit mit dem Kirchenbauer Dominikus Böhm mit der liturgischen Bewegung in Deutschland in Kontakt, deren Bestreben, die Gemeinde aktiver in die Messe einzubeziehen, auch neue Anforderungen an die Raumgestaltung stellte. «Die Kirchen sind erstaunlich modern gewesen», sagt Podbrecky. Es handelt sich um großteils Stahlbetonbauten mit großen einheitlichen Räumen und ungegliederten Flächen, die am Puls der Zeit waren.

Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche.

Auch die Christkönigskirche am Vogelweidplatz im fünfzehnten Wiener Gemeindebezirk hat ein austrofaschistisches Erbe. Hildegard Burjan, die erste Abgeordnete der Christlichsozialen Partei, initiierte ursprünglich eine Grabeskirche für den verstorbenen Altbundeskanzler Ignaz Seipel, der als ideologischer Gründungsvater des autoritären Ständestaates gilt. Ähnlich wie die Engelbertkirche wurde sie nach dem Tod von Dollfuß kurzerhand zur Seipel-Dollfuß-Gedächtniskirche umfunktioniert, in der die Särge der beiden Politiker in der sogenannten Kanzlergruft, einer Krypta unterhalb des Altars aufgebahrt wurden. «Man könnte es mit einer Königsgrablege vergleichen», sagt Podbrecky. Selbst die Sitzbank, auf der Dollfuß starb, und der blutbefleckte Teppich wurden einst im Nebenhaus ausgestellt. Benito Mussolini stiftete eine Bronze-Pietà, die heute noch in der Kirche zu sehen ist. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion betteten die Nationalsozialisten 1939 die sterblichen Überreste von Dollfuß auf den Hietzinger Friedhof und jene von Seipel auf den Wiener Zentralfriedhof um.
Die Kirche wurde von Clemens Holzmeister geplant, dem staatstragenden Architekten des Austrofaschismus. «Er war an fast allen großen Bautätigkeiten der Zeit beteiligt», erzählt Podbrecky. Wie beurteilt Pfarrer Martin Rupprechter dieses zur Pfarre Hildegard Burjan gehörende Kirchengebäude?: «Es sollte ein Haus unter Häusern sein, um den Arbeiterinnen und Arbeitern auf Augenhöhe zu begegnen.» Auf einen Kirchturm wurde verzichtet, wodurch sich der Bau in die Umgebung einfügt. Direkt an die Kirche schließt das ehemalige Fürsorgehaus an, in dem heute ein Kindergarten untergebracht ist.

Erinnerungskultur.

Bis 2019 war beim Eingang eine Dollfuß huldigende Inschrift angebracht. Aufgrund der Seligsprechung Burjans, die bereits 2012 erfolgte, entschied sich Rupprechter schließlich dazu, neue Texttafeln über die alte Inschrift zu platzieren, die das Wirken Burjans und ihren sozialen Gedanken in den Vordergrund stellt, er wollte nämlich nicht länger, «dass der erste Impuls, wenn man sich der Kirche nähert, eine politische Nachricht ist». In der innerkirchlichen Selbständigkeit sei die Geschichtsaufarbeitung Aufgabe der Pfarre, ergänzt er.
Die meisten noch erhaltenen Dollfuß-Denkmäler sind im kirchlichen Bereich anzutreffen, daher «müsste die Aufarbeitung speziell in der katholischen Kirche intensiviert werden», meint die Zeithistorikerin Lucile Dreidemy.
In die Kritik geriet auch der frischangelobte Innenminister und ehemalige Bürgermeister von Texingtal, Gerhard Karner. Die niederösterreichische Gemeinde beheimatet im Geburtshaus von Dollfuß seit 1998 das Dollfuß-Museum, das laut Kritiker_innen einer Pilgerstätte entspreche. Für 2022 sei eine «zeitgemäße Kontextualisierung» dieses Museums geplant, hieß es von einem Sprecher des Ministers auf APA-Anfrage.