Die kleine Türkeivorstadt

Von Villach in die Türkei ist es nur ein Katzensprung. Mit dem Auto sind Sie in nur knapp zehn Minuten dort, und Sie brauchen auch kein Visum. Von Chris Haderer (Text und Fotos)

Bild: Einen «Türken» noch klischeehafter darzustellen wäre wohl nicht einfach.

Selbst die Lügenpresse kann nicht verleugnen, dass Istanbul nicht ganz 1300 Kilometer Luftlinie von Wien entfernt ist. Mit dem Auto kann man in knapp 20 Stunden dort sein. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass man von Villach in die Türkei aber nur zehn Minuten braucht. Fährt man beispielsweise von Egg am Faaker See kommend die Ribnigstraße entlang, taucht linker Hand ein Asphaltweg auf, der in ein kleines Tal führt. An der Abzweigung steht ein Schild, auf dem ein Herr abgebildet ist, der für das Julius-Meinl-Logo Modell gestanden haben könnte, daneben die Schrift: «Türkei. Tal der Ruhe und Erholung.» Diese Türkei ist keine Begegnung von Orient und Okzident, sondern ein Gebiet, das etwa einen Kilometer nördlich des Faaker Sees beginnt und in der Nähe von Drobollach endet und dessen Name – angeblich – auf ein türkisches Heereslager aus dem Jahr 1487 zurückgeht. Dazwischen verläuft der Türkeiweg, der manchmal auch Türkenstraße genannt wird. Man braucht zur Einreise weder ein Visum, noch muss man als Journalist fürchten, verhaftet zu werden. Wahrscheinlicher ist, dass man die Landschaft ohne touristische Nebengeräusche erleben wird. Da die «kleine Türkei» in keinem Reiseführer aufscheint, verirren sich kaum Urlauber_innen dorthin.

Kontemplative Gegend.

Helmut Manzenreiter, bis zum Jahr 2015 Bürgermeister von Villach, schätzt «dieses romantische Tal als Ruheoase und Wanderparadies». Es gibt nur 26 Anrainer_innen, die sich auf elf Häuser und drei Stadel verteilen – weshalb das Gebiet gastronomisch ein weißer Fleck auf der Landkarte ist. In der Kärntner Türkei kann man wandern und kontemplativ sein. Kebab und Efes wird man vergeblich suchen. Finden wird man stattdessen einen «Türken-Brunnen», eine türkische Wetterstation und eine Brücke, die über einen namenlosen Bach führt. Nach etwa einem Kilometer endet mit dem letzten Haus auch die befahrbare Straße: Den Rest der kärntnerisch-türkischen Mischwaldkooperative muss man erwandern, bis man am Fuchsbichlweg über Kratschach wieder nach Villach zurückkehrt.

Angeblich geht der Name des Türkei-Tales auf die zahlreichen Türkenbelagerungen zurück, die Kärnten im 15. Jahrhundert erlebte. Gleich fünf Mal, nämlich 1473, 1476, 1478, 1480 und 1483, fielen Kriegsheere ein und brandschatzten sich durch die Region. 1476 wurde zuerst das nahe Kloster Arnoldstein in Brand gesetzt, wie Jakob Unrast, Pfarrer in St. Martin am Techelsberg in seiner Österreichischen Chronik als Zeitzeuge festhielt, dann zogen die Heere «unter Federawn durch die Geyl und unn­ter Villach durch die Tra neben Wernberg hinaus, ein tayl gen Ossiach, ein tayl gen Veldtkirchen». Der «Ossiacher-Teil» könnte sich im Türkei-Tal niedergelassen haben, denn 1478 kamen die Türken an den «Werdtsee», dort «verprannten sy vill hewser mit namen Velden». Nach diversen Raubzügen auf die umliegenden Dörfer blieben geschätzte 5000 Mann im Raum Villach: «Do chamen sy zusamen und belieben an der Geyl in die vierde wochen, sy verwuesteten dieselbe gegennt gar an lewdt und an guet», wie Jakob Unrast festhielt.

Kein Müll.

«Beweisen kann man das allerdings nicht», sagt Mirko Hofer. Denn: Bislang wurden in der Gegend keine aus der Zeit stammenden Artefakte gefunden, wie beispielsweise Gürtelschnallen oder Messer. Zwar gäbe es in der Region einige Funde aus frühen Zeitepochen, die Türken scheinen auf ihren Reisen durch Kärnten aber keinen Müll liegengelassen zu haben. «Deshalb wird ihre Anwesenheit vorwiegend durch Sagen und historische Aufzeichnungen begründet.» Mirko Hofer, der im November 2017 von der Kleinen Zeitung zum «Kärntner des Tages» erkoren wurde, ist so etwas wie der Chronist von Maria Gail, einem knapp 400 Einwohner_innen großen Vorort von Villach. Von seinem Haus bis zum Türkei-Tal ist es nur ein Katzensprung. Hofer wurde 1992 zum Diakon geweiht und war bis zu seiner Pensionierung Regionalreferent der katholischen Kirche. Die Gedenktafel für die Opfer des Nationalsozialismus, die am Kirchenvorplatz in Maria Gail zu finden ist, geht auf Hofers Initiative zurück.

Sein «Lebenswerk» wird von zwei Büchern angeführt: 1999 veröffentlichte er mit Maria Gail – Aus der Geschichte einer Landgemeinde eine umfassende Dokumentation der Region; 2016 folgte der zweite Band, in «dem Zeitzeugenberichte und mehr als 1300 Fotos enthalten sind», sagt Hofer stolz. Das Auffinden der Bilder, die zum überwiegenden Teil aus privaten Quellen stammen, sowie ihre Bearbeitung am Computer sei enorm viel Arbeit gewesen. «Alleine für den ersten Band der Chronik habe ich fast sieben Jahre recherchiert.» Hofer kennt die Geschichten um die Herleitung des Namens «Türkei» genau – woran es der Historie jedoch mangelt, sind greifbare Beweise: Die mehrmalige Anwesenheit türkischer Heere und ein geplanter Angriff auf Villach seien zwar durch Dokumente und Aufzeichnungen belegt, nicht aber, dass Truppen in der kleinen Türkei ihr Lager aufgeschlagen hätten. «Irgendetwas müsste man im Boden finden», sagt Mirko Hofer. Bislang sind alle Suchaktionen allerdings erfolglos verlaufen.

Hausname oder Hautfarbe?

Ein Indiz dafür, dass die türkischen Truppen im Türkei-Tal ihr Lager aufschlugen, könnte die «Turtschitsch»-Keusche sein, die sich am Türkeiweg 96 befindet. «Türkei heißt auf Slowenisch Turčija», erklärt Hofer. «Ob sich daraus der Hausname Turč-ič/Turtschitsch entwickelte, ist fraglich. Es könnte auch ein Mensch mit dunkler Hautfarbe – wie ein Türke – den Anlass dazu gegeben haben.» Es gibt großen Spielraum für Interpretationen, wie beispielsweise die Ableitung des Namens Turtschitsch von einem alten Besitzer: «Ein Otto, der Türk, hatte um 1357 viele Geschäfte südlich von Villach und im Gailtal», sagt Mirko Hofer. «Im Unterschied zur Siegelfigur der Liesertaler Gewerken namens Türk, die, dem Namen entsprechend, tatsächlich einen Türken im Wappen führten, ist das bei Otto Türk nicht so. Für seinen Namen hatte er ein Bockshorn im Siegel, abgeleitet wohl aus dem slawischen trkati», das anstoßen oder anklopfen bedeutet.

Wenn die Wahrheit nichts mehr hergibt, dann hilft vielleicht die Lügenpresse weiter. Sprich: Es gibt auch eine Legende zur Herkunft der Türkei-Tales: Als 1478 bereits die dritte Angriffswelle gegen Kärnten rollte, umgingen die Osmanen die Abwehrstellungen des Kärntner Bauernbundes auf dem Predilpass. Dadurch konnten sie die Bauern von hinten angreifen, umliegende Dörfer problemlos plündern und in Ruhe die Eroberung von Villach planen. Die Einzelheiten des Invasionsplans wurden allerdings einem Villacher Bürger bekannt, der sich lange Zeit in türkischer Gefangenschaft befunden hatte und deshalb die Sprache beherrschte. Mit diesem Wissen konnten die Türken abgewehrt und die Stadt Villach gerettet werden. «Als Dank werden in Maria Gail heute noch jeden Samstag um 15 Uhr die Kirchenglocken geläutet», sagt Hofer. «Die Legende sagt, dass das Tal zwischen Faaker See und Maria Gail, wo sich das türkische Lager befand, in Erinnerung an dieses Geschehen Türkei genannt wurde.»

Lukullische Liaison.

Eine Legende zwar, aber eine, die einen wahren Kern haben könnte, denn die Beutezüge der Türken haben im Land auch andere Spuren hinterlassen. Zumindest die Kärntner Küche kann ihre Liaison mit dem Türkischen nicht wirklich totschweigen – der auch in der Steiermark recht verbreitete Türkensterz ist der Beweis dafür. Er ist eine von gefühlten hundert in der Alpenrepublik verbreiteten Sterz-Variationen. Hauptzutat ist der sogenannte Türkn, der allgemein Kukuruz genannt wird und auch als Mais bekannt ist. Der Türkensterz ist ein gerissener Teig aus Maisgrieß, der auf die harte Tour mit Käse, Grammeln und mit Schmalz übergossen serviert werden kann. Als süße Variante wird er mit Milch, Kaffee oder Joghurt aufgetischt. Süß ist auch das «Türken-Tommerl», eine Art Schichtgebäck aus mehreren Lagen Teig und Früchten. Somit ist der «Türk» ein fester Bestandteil des Kärntnerischen, der Sprache wie auch der Landschaft. Und diese ist in der kleinen Türkei bei Villach ganz anders, als es der Name erwarten lässt. Und letztlich ist es auch egal, woher der Name stammt – bekannt ist er ohnehin nur Menschen, die in der Nähe von Wörther-, Ossiacher- und Faaker See leben. Die Wetterwarte Türkei, auf die man etwa in der Mitte des Tales stößt, hat zumindest etwas zutiefst Lokales: neben der Seehöhe (etwa 550 Meter) erfährt man, dass es vermutlich regnet, wenn der an einem Seil befestigte Stein nass ist. Ist der «Stein ganz in Weiß», herrscht dem Vernehmen nach starker Schneefall. Und wenn es im Hintergrund dumpf grollt, wurde wahrscheinlich der Witz gerade vom Blitz erschlagen.

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