Lieber die Zeitung als den Körper verkaufen: Kolporteurin Marian
Wenn du wüsstest, wie dünn ich war, als ich 2004 nach Österreich kam, lacht Marian, eine der beiden afrikanischen Verkäuferinnen des Augustin. Dass sie heute so fett sei, habe sie ihren Kundinnen und Kunden zu verdanken, denen sie in der U3-Station Herrengasse die Straßenzeitung anbietet. So viel Schokolade könne sie gar nicht essen, wie sie von ihrer family, so nennt sie den Stammkundenkreis, solidarisch verabreicht bekäme.Die family scheint die Nigerianerin überhaupt sehr ins Herz geschlossen zu haben. Marian jedenfalls hat nur dickes Lob für die Augustin-KäuferInnen parat, die neben der Schokolade auch sonst einige Ideen haben, wie sie ihrer Schwarzen den Aufenthalt im fremden Land erträglicher machen könnten. Einer bringt mir zum Beispiel fast jeden Tag Tee, weil ich mich wie er sagt gegen eine Erkältung schützen muss, erzählt Marian. Wo sie verkauft, ist kalte Zugluft tatsächlich manchmal ein Krankenstands-Grund. Auch habe sie bereits zehn paar Handschuhe zuhause, weil die Leute von Afrikanerinnen annehmen, sie seien weniger resistent gegen die Winterkälte. Das größte Geschenk habe ihr eine Lehrerin bereitet: Sie bezahlt den Deutschkurs, der jeden dritten Abend stattfindet und in dem Marian derzeit um eine Verbesserung der Aussprache kämpft.
Nach all dem, was sie in der ersten Phase ihres Österreich-Aufenthalts siehe unten erlebt habe, sei sie vom Ausmaß der Hilfsbereitschaft gegenüber einer schwarzen Augustine überrascht worden, sagt Marian. Wichtig für ihre Seele seien aber nicht so sehr die materiellen und finanziellen Zuwendungen, sondern die vielen How do you do’s und Wie geht’s dir’s, die sie im Laufe ihrer Kolportage in der Regel an Werktagen von 6 Uhr früh bis 11 Uhr ernten könne. Ein Kunde, den ein Blick auf Marians Lagerkarte belehrte, dass sie am selben Tag Geburtstag hatte wie er, lud sie zur Geburtstagsfete ein. Selbst die Polizisten grüßen mich oft, wenn sie vorbeigehen. Wow! Marian staunt, was ein vom Vertriebsbüro gestempelter VerkäuferInnen-Ausweis bewirkt. Immerhin gilt der Respekt, den Marian entgegennehmen kann, einer papierlosen, entrechteten, bisher um ihr Asylrecht betrogenen Frau. Ihr Aufenthalt in Österreich ist von der Behörde bloß geduldet.
Marian nimmt nicht nur, sie gibt auch viel. Sie hat ja eine feine Zeitung in der Hand, sie schenkt Freundlichkeit und sie heitert die Menschen mit Gospelsongs auf zu einer Zeit, in der sie diesen Balsam besonders nötig haben: bei den morgendlichen Zwangswegen zu den Schreibtischen der Ministerien und Ämter in der Umgebung der U3-Station. Wenn du Schmerzen im Herz hast, ist Musik das beste Heilmittel, sagt Marian. Und Herzschmerzen seien unvermeidlich, wenn du wo fremd bist, ohne deine Familie um dich. Ob sie ihre Lust zu singen nicht professionalisieren wolle, fragen wir sie. Und wann wir sie auf einer Bühne bewundern könnten. Kommt in die Herrengasse, dann hört ihr mich, antwortet Marian. Wenn sie musikalische Begleiter fände, könne sie sich auch vorstellen, afrikanische Musik zu machen. Vielleicht einmal für ein Augustin-Fest …
Westbahnhof oder Prater such’s dir aus
Denn dem Augustin verdanke sie alles. Immer wieder bricht das aus Marian heraus. Das Exilland Österreich zeigte sich zunächst von seiner übelsten Seite. In einer Privatpension in einem burgenländischen Dorf war sie der Willkür der Inhaberin ausgesetzt, die staatliches Geld dafür kassierte, 15 bis 20 AsylwerberInnnen zu beherbergen. Wenn der Chefin irgendwas nicht passte, wurde das Essen gestrichen. Eingaben, die die Betroffenen zur Caritas nach Eisenstadt schickten, oder die Intervention eines lokalen Pfarrers, der die Diktatorin auf die Zweckestimmung der staatlichen Gelder hinwies, änderten an der Situation wenig. Marian wartete die nächste Gelegenheit ab, nach Wien zu kommen. Doch Wien war abweisend wie die Provinz. Ich hungerte. Jeder, den ich fragte, wie man als schwarze Frau hier überleben könne, sagte mir: Du hast zwei Möglichkeiten Strich im Prater, Strich beim Westbahnhof. Aber meinen Körper zu verkaufen kam für mich nicht in Frage, erzählt Marian.
SozialarbeiterInnen, die Frauen unterstützen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, halfen der Nigerianerin weiter. Marian kam in ein Caritasheim im zehnten Bezirk, wo sie inzwischen ein Kämmerchen für sich hat. Sie erfuhr von einer Straßenzeitung, die vor allem von Afrikanern vertrieben wurde: von der Bunten. Der Stephansplatz wurde ihr Verkaufsplatz. Die Bunte, inhaltlich spezialisiert auf Themen wie Migration, Integration und Rassismus, war schlecht zu verkaufen, sagt Marian. Außerdem sei der Stephansplatz immer das Zentrum der Konkurrenzkonflikte der Straßenzeitungsverkäufer gewesen. Der Wechsel zum Augustin und das Platzrecht, das sie in der Herrengasse genießt, brachte eine Ahnung von Sicherheit in ihr prinzipiell unsicheres Leben als Unerwünschte in einer sich gegenüber Armen abschottenden Überflusswelt.
Eigentlich verstehe ich nicht ganz, warum es nur zwei afrikanische Frauen beim Augustin gibt. Die Frauen sagen, sie genierten sich, betteln zu gehen. Als ob der Augustinverkauf ein Betteln sei. Als Afrikanerin ohne Papiere, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Aufenthaltsrecht hast du in Wien nur zwei Alternativen. Entweder du wirst Prostituierte oder du verkaufst den Augustin. Auch auf eine weitere Wirkung des Augustin weist Marian hin: Asylwerber sind in Gefahr, crazy zu werden durch Nichtstun. Hier im Caritasheim bekommen wir 35 Euro Essensgeld pro Woche. Gut, vielleicht kann man damit überleben, aber das Herumsitzen oder Herumliegen macht dich unweigerlich krank. Mit dem Augustin bleibst zu busy, in Bewegung. Sie würde gerne eine Ausbildung als Krankenpflegerin machen. Gott allein wisse, ob sich dieser Wunsch je erfüllt.
Worüber Marian überhaupt nicht gern reden will, sind die Gründe ihrer Flucht aus Nigeria. Aufgewachsen in einer Yoruba-Familie im Niger-Delta, die von Landwirtschaft und Fischfang lebte, sollte sie als Mädchen auf das Genitalbeschneidungs-Ritual vorbereitet werden. Marian wusste, dass diese traditionelle Vaginaverstümmelung keiner Frau des Dorfes erspart bleiben würde, und sie wusste, dass viele Mädchen an dem Eingriff starben. Mithilfe eines kritischen Journalisten konnte sie fliehen. Die österreichischen Asylbehörden haben mir nicht geglaubt. Sie denken, ich lüge, sagt Marian verbittert. Sie ist kein Einzelfall. Die Story könnte hier leicht ins Politische rutschen. Aber sie endet schon. Denn Marian ging es eigentlich nur um eine Hommage an die PassantInnen in der U3-Station Herrengasse.
Wo Nigeria führend ist …
Die weibliche Genitalverstümmelung bedeutet das Herausschneiden der Klitoris sowie der gesamten inneren Schamlippen oder Teile davon. Neben den körperlichen Schmerzen, welche durch diese Praxis selbst sowie oft nachfolgende Infektionen verursacht werden, hat diese Praxis auch eine traumatisierende Wirkung auf ihre Opfer.
Joy Keshi Ashibuogwu von der Women Issues Communication Services Agency (WISCA) aus Nigeria sagt, dass in Nigeria die Hälfte aller genitalverstümmelten Frauen Afrikas leben.
Laut der nigerianischen Frauenrechtsaktivistin Hannah Edemikpong haben viele Politiker und politische Parteien in Nigeria begonnen, diese Praxis rhetorisch zu verurteilen wegen der Missbilligung dieser Praxis auf internationalen Ebenen und in internationalen Abkommen. Die Diskussion über Sex und Sexualität ist ein Tabu in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft, aber wir und andere Frauengruppen sind dabei, das Unheil zu durchbrechen und haben zusammen mit vielen gebildeten Frauen viel Druck ausgeübt auf Mitglieder gesetzgebender Versammlungen. In der Tat gibt es einen Durchbruch in vielen Staaten in Nigeria, in denen Gesetze verabschiedet werden, die Genitalverstümmelungen für illegal erklären, aber das Problem ist, wie man dieser Gesetzgebung Geltung verschafft. Selbst in Europa, wo weibliche Genitalverstümmelung verboten ist, wird diese immer noch heimlich von Afrikanern und Asiaten an ihren Kindern vorgenommen.