Buchtipp
«Um mich unter die Erde zu bringen, braucht es zwei Gräber. Eines für meine Klappe, ein anderes für den Rest.» Christian Mehr redet. Er redet viel, sagt er selbst, aber vor allem redet er offen: über das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das gewalttätige Projekt der Schweizer Stiftung Pro Juventute. Unter diesem karitativ klingenden Namen wurden in Kooperation mit den Vormundschaftsbehörden von 1926 bis 1972 mehrere hundert Kinder ihren Eltern zwangsabgenommen bzw. geraubt. Wer war betroffen? Fahrende, vor allem Jenische. Die Kinder sollten zwangsassimiliert, sesshaft gemacht und nebenher als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Christian Mehrs Großmutter war eines der ersten dieser Kinder – und er eines der letzten.
Michael Herzig begleitet Christian und seine Mutter, die grandiose Schriftstellerin und Aktivistin Mariella Mehr, und erzählt anhand von Erinnerungen, Akten und offizieller Geschichtsschreibung das Zerreißen einer Familie. Ein höchst politisches und zutiefst berührendes Buch. Ernsthaft recherchiert und bei aller Schwere doch von einem schiefen Grinsen durchzogen. Denn Christian und Mariella erleben noch, dass das Recht auf ihrer Seite ist, und Christian zieht nach endlosen Jahren in Pflegefamilien und Heimen zu seiner Mutter zurück. Emotional aber bleibt der Graben bestehen, den das große Verbrechen verursacht hat: «Es geht auf und ab. Ich besuche Mariella in der Klinik. Ich breche mit ihr. […] Wir sind beide hochexplosiv.» Alkoholkrankheit, Drogensucht, psychische und physische Belastungen müssen die befreiten «Kinder der Landstrasse» überwinden oder zu akzeptieren lernen, damit sich ein Hauch von Freiheit leben lässt: «Ich verstecke nichts. Die Narben nicht. Die klobigen Schuhe nicht. Mich nicht. Nicht mehr.»
Michael Herzig:
Landstrassenkind
Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr
Limmat 2023
160 Seiten, 34 Euro