Eing'Schenkt (22. Oktober 2024)
»Jeder Schritt war so winzig, so belanglos, so plausibel gerechtfertigt, dass auf täglicher Basis niemand verstand, was das Ganze im Prinzip bedeuten sollte und wohin all diese ‹winzigen Maßnahmen› eines Tages führen würden.» Das schrieb Milton Mayer in seiner Studie über Erfahrungen von Leuten der 1930er- und 1940er-Jahre in Deutschland. Und weiter: «Auf täglicher Basis verstand es keiner, genau so wenig wie ein Bauer in seinem Feld sein Getreide von einem Tag auf den nächsten wachsen sieht. Jede Handlung ist aber schlimmer als die letzte, doch nur ein wenig schlimmer.»
Jeder einzelne Schritt war so winzig, so plausibel gerechtfertigt. Ein Angriff auf die unabhängige Justiz da, eine Einschränkung der freien Medien dort, eine Beschimpfung von Minderheiten hier, ein Sündenbock da, eine Verhöhnung evidenzbasierter Wissenschaft dort.
«Die Last der Selbsttäuschung ist zu schwer geworden, und irgendein unbedeutender Vorfall, in meinem Fall mein kleiner Junge, kaum mehr als ein Baby, der ‹Judenschwein› sagt, lässt sie mit einem Mal zusammenbrechen, und du siehst, dass sich alles, alles, vor deiner Nase verändert hat und völlig verändert ist», reflektiert ein Gesprächspartner aus dem Deutschland vor hundert Jahren, erschüttert über das, was da mit einem selbst möglich wird. Mayers Untersuchungen durchziehen gespenstische Beobachtungen und genaue Alltagsbeschreibungen: «Die äußerlichen Formen sind alle vorhanden, alle unberührt, alle beruhigend: die Häuser, die Geschäfte, die Mahlzeiten, die Besuche, die Konzerte, das Kino, die Ferien. Nun lebst du in einer Welt bestehend aus Hass und Furcht, und die Leute, die hassen und fürchten, wissen nicht einmal selbst, dass, wenn jeder transformiert ist, keiner transformiert ist. Du hast Dinge akzeptiert, die du vor fünf Jahren nicht akzeptiert hättest, oder vor einem Jahr.»
Menschenrechtskonvention einschränken, eine Bevölkerungsgruppe verantwortlich machen für alles, was schief läuft im Schulsystem, beim Wohnen, in der Gesundheit, sich in Probleme verlieben statt in Lösungen, am Schimpftratsch über Minderheiten teilnehmen, völkische und identitäre Ethnopluralisten von den Nazigräbern achselzuckend direkt in Regierungssessel heben, sich über die Kritiker:innen der autoritären Regime in Ungarn, der Slowakei, Türkei oder in Russland lustig machen.
Milton Mayer hält in seinem Buch der Alltagsbeobachtungen aus dem real existierenden Faschismus fest: «Im politischen wie im persönlichen Bereich ebnet der Nichtwiderstand gegen die milderen Anlässe den Weg für den Nichtwiderstand gegen die tödlicheren.»
«Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung», fasst es Schriftsteller Michael Köhlmeier heute zusammen. In dieser Beobachtung ist auch ein Hoffnungsfunke versteckt. Wenn die Schritte zum Bösen taugen, dann taugen sie auch in die andere Richtung. Kein Schritt ist belanglos. Kein Schritt ist umsonst.