Sie fahren ihre Einsätze ohne Blaulicht
Das Retten und Weiterverteilen von Nahrungsmitteln ist nach Deutschland auch in Österreich angekommen und wird von mittlerweile rund 900 Menschen, den so genannten Foodsavern, praktiziert. Jürgen Plank (Text und Fotos) ist der Essensrettung nachgegangen und hat dafür in Garagen und Kühlschränke geblickt.«Ich komme ungefähr zwei Mal pro Woche hierher», erzählt die 25-jährige Jusstudentin Anna, während sie gerade Mangold aus dem unteren Regal des Kühlschranks zieht. Wir befinden uns im Lokal «7stern» im Bezirk Neubau, einem von elf Standorten in Wien, an denen öffentlich zugängliche Foodsharing-Kühlschränke – «Fairteiler» genannt – stehen. Aus diesen Kühlschränken kann jedermensch gratis Lebensmittel entnehmen. Wer Nahrung hineingibt, muss streng auf Hygiene achten, leicht Verderbliches wie Fisch oder Fleisch, soll nicht geteilt werden. Gut zum Weitergeben eignen sich somit Gemüse und Obst. «Mir gefällt an Foodsharing der bewusste Umgang mit Lebensmitteln und, dass Menschen davon profitieren können, wenn etwas übrig bleibt», sagt Anna und verlässt das Lokal mit einer vollen Einkaufstasche.
Wenige Stunden vor Anna war Walter Albrecht von Foodsharing Wien hier und hat den Kühlschrank mit Gemüse und mit Ziegenmilch in Halbliter-Tetrapackungen aufgefüllt. All das – Lebensmittel, die ansonsten im Müll gelandet wären – hat er auf seiner täglichen Runde mit dem Lastenfahrrad bei Kooperationspartnern wie Bäckereien, Greißler_innen und Hotels abgeholt.
Online-Community
Foodsharing wird hauptsächlich online organisiert: Wer mitmachen möchte, beantwortet zunächst einen Online-Fragebogen zum Thema Lebensmittel und deren Verschwendung. Ist das geschafft, erfolgt die Aufnahme in die Community. Virtuelle Essenskörbe können mit Angeboten befüllt werden. Schon gesehen: ein Liter Granatapfelsaft gegen Selbstabholung.
Foodsaver_innen wie Walter Albrecht bekommen einen Foodsharing-Ausweis. Bevor es ans eigenständige Abholen von aussortierten Waren bei einem Supermarkt geht, machen sich die Noviz_innen drei Mal mit erfahrenen Foodsaver_innen auf den Weg und lernen die Abläufe einer Abholung und Geschäftsbetreiber_innen kennen. Am besten, so sagen es die Foodsharing-Richtlinien, ist man umweltschonend und anstatt mit dem Auto per pedes, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad in Sachen Lebensmittelrettung unterwegs.
«Bald bekomme ich ein neues Lastenrad, mit dem ich bis zu 300 Kilogramm transportieren kann», freut sich Albrecht, als ich ihn in seiner Garage im 10. Wiener Gemeindebezirk aufsuche: Die Garage ist ein Fairteiler. Man sieht sofort: Hier hat einer seine Berufung gefunden. Mehrere Lastenräder sind zu sehen, Kisten und Regale voll mit Gemüse und Gebäck und gleich mehrere Kühlschränke – einer randvoll mit in Plastik eingeschweißten Würsten.
«Ich arbeite bei der Wiener Müllabfuhr und sehe, was jeden Tag weggeworfen wird. Wenn ich gläubig wäre: Lebensmitteln wegzuwerfen, ist eine Todsünde», sagt der 48er, der deshalb seine Freizeit ebenfalls mit dem Transportieren von – vermeintlichem – Müll verbringt: «Der ganze Nachmittag geht fürs Foodsharing drauf, zirka 40 bis 50 Stunden pro Woche. Vormittags führe ich den Müll weg und am Nachmittag rette ich Lebensmittel aus dem Müll», grinst Albrecht. Sein Erweckungserlebnis, wenn er gläubig wäre, hat er vor einigen Jahren zu Weihnachten gehabt. In einem Müllraum entdeckt Walter Albrecht einen voll aufgeputzten Christbaum, sogar die Schokolade ist noch dran. Er stibitzt ein Stückchen und fragt sich fortan, warum man Lebensmittel nicht Bedürftigen zukommen lässt. Seit zwei Jahren lautet Walter Albrechts Antwort auf die Frage zu Foodsharing, fast fünf Tonnen Lebensmittel habe er bereits gerettet.
International gesehen ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Alleine in der EU landen jedes Jahr rund 90 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Immerhin hat das EU-Parlament 2012 angekündigt, diese Zahl bis 2025 halbieren zu wollen. Der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) zufolge werden jährlich gar 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen: Für deren Produktion werden 28 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen und 250 Kubikkilometer Wasser verwendet, außerdem fallen dabei 3,3 Milliarden Tonnen Kohlendioxid an.
Damit es gar nicht zum Wegwerfen von Lebensmittel kommt, rät Walter Albrecht dazu, vor dem Einkaufen immer einen Einkaufszettel zu schreiben und sich daran zu halten: «Auch Milchprodukte sind oft Wochen länger haltbar, als das Mindesthaltbarkeitsdatum angibt.»
Anlaufstelle im Grätzl
Walter Albrecht öffnet seine Garage jeden Abend um 18 Uhr: «Gestern waren zirka 40 Menschen hier», erzählt er über den Erfolg des Projekts, und seine eigene Begeisterung wird spürbar.
Foodsharing fördert den Zusammenhalt im Grätzl, denn seine Garage ist eine soziale Anlaufstation geworden. «Viele kommen aus der unmittelbaren Nachbarschaft hierher. Aber es ist sogar jemand aus Niederösterreich dabei. Der hat Foodsharing auf Facebook gefunden.» Inzwischen kennt Walter Albrecht seine Pappenheimer fast alle persönlich.
Eine regelmäßige Besucherin ist die 20-jährige Boku-Studentin Elsa, Walter Albrecht ist ein alter Freund ihrer Mutter. «Ich habe mich lange nicht getraut, hierher zu kommen», erzählt sie. Warum eigentlich? «Es war ein komisches Gefühl, weil man nichts hier lässt. Ein bisschen wie klauen», lacht Elsa. Dabei passt ihr Studienfach perfekt zu ihrer Einstellung, gegen Lebensmittelverschwendung vorgehen zu wollen: Umwelt- und Ressourcenmanagement. Schließlich hat sie sich doch getraut und kommt seitdem etwa zwei Mal pro Woche vorbei, um Gemüse und Wurst abzuholen. «Pro Monat erspare ich mir so zirka 50 bis 100 Euro», sagt Elsa. Das bestätigt auch die Studentin Irmi, die im Wochenabstand bei Walter Albrechts Garage vorbeischaut: «Am meisten freue ich mich über Gemüse und frisches Brot.» Sie selbst hat im letzten Winter mal zu viel Glühwein und Punsch gekocht, über die Foodsharing-Gruppe auf Facebook hat sich damals schnell ein Abholer dafür gefunden.
An den Fairteilern halten sich wirklich Bedürftige und politisch motivierte Student_innen, die ihre schmale Geldbörse ein wenig schonen wollen, die Waage. Egal wer aus welchen Gründen die Fairteiler aufsucht: Willkommen sind alle, und an den Fairteilern werden alle gleich behandelt. «Es ist ein befriedigendes Gefühl. Alle gehen mit einem Lächeln nach Hause. Man hat Lebensmittel gerettet und gleichzeitig ein gutes Werk getan, und die Leute sind satt und glücklich. Das taugt mir», sagt Walter Albrecht und schließt seine Garagentür wieder ab. Es ist 19 Uhr. Sein Tag als Foodsaver ist jetzt noch nicht zu Ende: Denn gleich geht es mit dem Lastenrad in den 7. Bezirk. Dort werden vermutlich gerade jene Lebensmittel aussortiert, die er gleich retten wird.
Info:
Begonnen hat Foodsharing 2011 in Deutschland, die Initiative wurde vom Filmemacher Valentin Thurn begründet, nachdem er für den Film «Taste The Waste» der Lebensmittelverschwendung auf der Spur war.
www.foodsharing.at