Die LichtbildsammlerinArtistin

Die Sammlerin Mila Palm schreibt Amateurfotografiegeschichte. Im Milaneum verschafft sie Lichtbildern des Alltags einen neuen Wert.
Text: Lisa Bolyos, Fotos: Carolina Frank

«Sammeln», sagt Mila Palm, «ist eine eher einsame Tätigkeit.» Mit dem Milaneum, Galerie und Verkaufsraum für «Vintage Photography», hat Palm sich hingegen mitten auf der Westbahnstraße, der Wiener Fotostraße platziert, straßenseitig, direkt neben dem Eingang zur Galerie Westlicht. Ihre Sammlung: Amateurfotografie von Beginn des Lichtbildes bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts: «Das, was ich hier mache, macht sonst niemand.»
Über den Namen Milaneum – zu deutsch in etwa: gegründet von Mila –, den die AUGUSTIN-Journalistin für eine grenzgeniale Schöpfung hält, ist die Gründerin selbst mit sich uneins. Gewitzt, ja, und in standesgemäßer Tradition mit Institutionen wie dem Dorotheum oder der Albertina; aber es online zu finden: ein Drama, denn die großen Suchmaschinen reihen nicht die interessantesten, sondern die kommerziell verwertbarsten Orte vor, und da ist das Stuttgarter Einkaufszentrum Milaneo klar im algorithmischen Vorteil.

Ein Faible für Vergängliches.

Gesammelt hat Mila Palm schon als Jugendliche, auf den Flohmärkten ihrer Umgebung konnte sie ihrem Faible für Ephemera nachgeben, Dinge von kurzfristigem Gebrauch: Einladungs-, Post- und Visitkarten, bald erweitert durch Alltagsfotografien. Das Suchen und Sammeln schulte Palms Auge: «Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl für künstlerische Qualität, für seltene Motive, für die Ästhetik der Amateurfotografie.»
Heute ist das Sammeln Palms Profession. Der Flohmarkt ist nicht mehr der richtige Ort für Entdeckungen – «dazu ist die Konkurrenz zu groß geworden» –, sie kauft von Zwischenhändler_innen, bei Auktionen, im Internet. «Mit Wissen kann man besser einkaufen als mit Geld», schließlich geht es darum, unter hunderttausenden Bildträgern die zu finden, die in die Sammlung aufgenommen werden, die raren, die schönen, die «Zeitzeugen von ganz besonderen Momenten».

Dynamitsichere Safes.

Viermal im Jahr kuratiert die Milaneum-Betreiberin eine Ausstellung: zum Mond, zum Tod oder auch zur Erotik in der Fotografie, und Anfang 2019 konsequenter Weise zum Bargeld – wer für aussterbende Medien brennt, kommt um Scheine und Münzen nicht herum. In den metallenen Archivschubladen kommen Postkartensammlungen zum Vorschein – Darstellungen vom Pleitegehen, vom Kuckuck-Picken, vom Sparen, vom Betteln. In Palms Sammlung zum Geld in der Fotografie findet sich auch eine beachtliche Reihe an Tresorfotos – etwa eine «Ansicht der Rückseite eines Mangan Stahl Safes, Hibbard Rodman Ely Safe Company, Plainfield». Das Fotoalbum mit Bildern von der Arbeit in der US-amerikanischen Safeproduktion war ein spezieller Fund der Sammlerin. Es dokumentiert nicht nur Herstellung und Lieferung der Safes, sondern auch ihren Beschuss mit Dynamit – der Beweis, dass sie jedem Einbruchsversuch standhalten würden. «Das Album war feucht gelagert und damit für den Handel uninteressant. Aber für mich zählt der dokumentarische Wert der Bilder, dazu müssen sie nicht einwandfrei erhalten sein.»

Rückseitige Fundstücke.

Als studierte Papierrestaurateurin hat Mila Palm ein Faible für Schadensphänomene, Randbemerkungen und Rückseiten. All das mache eine Fotografie zu einem weit komplexeren Medium als nur ein Bild. Dreht man das Bild um, finden sich etwa Details über die Aufnahmetechnik, und manches Mal eröffnet sich gar ein wahres Wunderwerk an Ausstellungsplaketten, im Stil der jeweiligen Epoche gestaltet: So ist etwa verbrieft, dass eine Schnee-Aufnahme des Fotografen Franz Wiedenhofer es in Ausstellungen des ungarisch-öster­reichischen Kunstfotografieklubs, in den «Internationaal Kerstsalon» in Antwerpen oder zur Y.M.C.A nach Pontypridd in Wales geschafft hat.
Anders als Profis, deren Wert am Markt bestimmt wird, von deren Fotografien es eine Vielzahl an Abzügen gibt und deren Namen über Ausstellungen, Publikationen und Verkäufe ins gesellschaftliche Kunstgedächtnis eingeschrieben werden, sind die Amateur_innen nach ein, zwei Generationen dem Vergessen preisgegeben; wenn sich nicht eine wie Mila Palm ihrer annimmt.

Fotogeschichte ohne Zuhause.

Über die Beforschung ihrer amateurfotografischen Sammlungsobjekte hat Palm sich ein immenses fotohistorisches Wissen angeeignet, ein «alternatives Wissen», das im Alltagsgebrauch der Fotografien verloren geht und erst wieder rekonstruiert werden muss. Eine Fotogeschichte, stellt Palm bald fest, der in Österreich die Institution fehlt. «Es gibt neben dem Institut Bonartes kaum einen Ort, der ernsthaft fotohistorische Forschung betreibt.» Dabei hätten die meisten Museen Konvolute an Alltagsfotografien in ihrer Sammlung, die der Aufarbeitung harren. «Es gibt so viele Fotografen, die noch nicht erforscht sind, da könnte man ohne Ende Doktorarbeiten schreiben – aber wer soll die betreuen?» Palm selbst hat zur österreichischen Expeditionsfotografie, zur Kunst des Naturselbstdrucks (den sie der staunenden AUGUSTIN-Fotografin anhand von Gras- und Fledermausdrucken näherbringt) oder zur Ästhetik von Banknoten publiziert. Und hört man ihr zu, erscheinen vor dem geistigen Auge noch Unmengen Regalmeter an thematisch geordneten Bildträgern mit entsprechender Fachliteratur, deren Kulturgeschichte es im richtigen Moment (also in dem Moment, in dem die nötigen Ressourcen da sind – darunter vor allem Zeit) zu schreiben gilt.

Sieben Mal Dachstein.

Im hinteren Raum des Milaneum hängen drei Dachstein-Aufnahmen aus den 1870ern, darunter vier Kontaktabzüge in Farbe vom Juli 2019. Der Fotograf Johann Schoiswohl war auf den Spuren des Geografen Friedrich Simony rund um den Hallstätter Gletscher, den größten Dachsteingletscher, unterwegs. 1856 hatte der Gletscher eine Ausbreitung von 5,27 km2, davon ist heute knapp die Hälfte übrig.
Die Zusammenschau der Bilder hat etwas Forensisches. «Klimakunst», sagt Schoiswohl ironisch, «war nie mein Hauptanliegen. Aber wenn man dann sieht, in welcher Geschwindigkeit die Gletscher in Länge und Dicke zurückgehen, das ist schon brutal.» Eigentlich widmet sich der Fotograf in einem lang angelegten Projekt dem Toten Gebirge, das für ihn biografische Relevanz hat und dessen Wege er so gut kennt, das er sie im Kopf beschreiten kann. Der Dachstein kam als Auftragsarbeit vom Wiener Institut Bonartes hinzu. «Und das hat mich gereizt, weil ich die Dachsteingletscher kenne und die Simony-Arbeiten schon vor über einem Jahrzehnt in einer Ausstellung von Mila Palm gesehen hatte.» Im Sommer 2019 machte Schoiswohl drei Touren zum Hallstätter Gletscher, «teilweise mit der Seilbahn rauf, weil ich ja keine Heldentaten vollbringen muss», und biwakierte mit der Großformatkamera dort, wo der Gletscher im 19. Jahrhundert seine größte Ausdehnung gehabt hat, «weil man da, wo man aufwacht, vor Sonnenaufgang gleich die ersten Fotos machen kann.» Von wo aus Simony fotografiert hatte, erschloss sich Schoiswohl schnell, «aber manche Perspektiven machen heute keinen Sinn mehr: Von der Ochsenwieshöhe aus steht heute die Simonyhütte im Weg, und der Gletscher hat sich so weit zurückgezogen, dass man von dort aus kaum mehr was sieht.» Entstanden sind einige Aufnahmen, die Simonys Arbeiten nachvollziehen, und andere, individuelle Blicke auf den Gletscher. Ein Teil der Großformatnegative ging im Labor kaputt – bei dem Aufwand, den analoge Großformatfotografie im Gebirge bedeutet, ein Desaster, aber, schwacher Trost, wahrscheinlich eines, das auch Simony kannte.
Bis April hängen die Bilder als zeitgenössisches Pendant zu den Sammlungsstücken von Mila Palm in der Ausstellung Eis & Schnee in der Fotografie. «Schnee,» meint die Kuratorin mit ihrer Affinität für alles, was bald nicht mehr sein wird, «das ist auch so eine Sache, die im Verschwinden begriffen ist.» 

Eis & Schnee in der Fotografie
bis 25. April, Do–Sa, 14–18 Uhr
Milaneum, 7., Westbahnstraße 40
milaneum.com

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