«Die mitleidige Tour ist entwürdigend»tun & lassen

Humanitäre und medizinische Hilfe in Krisen, Kriegen, Katastrophen

Die Veranstaltungsreihe «Weltbefragung» – sechs Gespräche mit Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, die der Autor Ilija Trojanow 2015/16 in der Alten Schmiede führte – waren ein Geburtstagsgeschenk des Literaturquartiers an den Augustin. Zum Abschluss der Reihe sprach Ilija Trojanow mit der Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen Margaretha Maleh zum Thema «Die Grenzen humanitärer Hilfe». Ein später Nachtrag zum Augustin-20er mit aktuellen Thematiken von Jenny Legenstein.«Uns wir das Jahr 2015 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem Europa es nicht geschafft hat, Flüchtenden angemessen zu helfen – und so eine humanitäre Krise mitverantwortet hat», schreibt Margaretha Maleh im Editorial des am 18. Mai erschienen Jahresberichts 2015 von Ärzte ohne Grenzen Österreich. Willkürliche Grenzschließungen verschärften die Lage jener, die es nach Europa geschafft haben. Mit Sorge beobachte Ärzte ohne Grenzen, den geringer werdenden Respekt vor internationalen Flüchtlingskonventionen. Maleh schreibt weiter: «Diese sehen für Menschen auf der Flucht ein Recht auf Schutz, humanitäre Hilfe und einen würdevollen Umgang vor. Dass dieses Recht von vielen EU-Staaten – auch Österreich – zunehmend ausgehebelt wird, ist inakzeptabel.» Wenn es um Menschenrechtsverletzung geht, haben sich Vertreter_innen der internationalen Hilfsorganisation nie ein Blatt vor den Mund genommen. Eines ihrer wichtigsten Aufgaben neben medizinischer und humanitärer Hilfeleistung ist «Witnessing», Zeugenschaft, und Aufklärung zu geben über die Lage in Krisengebieten, Verletzungen der Humanität aufzuzeigen, auch von wem sie begangen wurden. Mit dieser Haltung hat sich Ärzte ohne Grenzen (ÄoG) nicht nur Freundschaften eingehandelt, die Organisation wurde deswegen auch schon aus Ländern ausgewiesen.

Die österreichische Sektion kümmert sich vorwiegend um die Suche nach neuen Mitarbeiter_innen und deren Ausbildung für Feldeinsätze, weiters um Fundraising und um die Evaluierung von Projekten. 2015 wurden ÄoG erstmals in ihrer Eigenschaft als Hilfsorganisation in Österreich aktiv als im Sommer das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen vollkommen überbelegt war, und Geflüchtete im Freien kampierten, die hygienischen Zustände waren mehr als besorgniserregend, die medizinische Versorgung vollkommen unzureichend war. «Unseren Einsatz haben wir deswegen notwendig gefunden, weil uns von der Bevölkerung und vielen Menschen, die in Traiskirchen waren, gemeldet wurde, wie schrecklich die Zustände waren und was alles nicht funktioniert. Das hat uns bewogen, zu sagen, wir können nicht tun als ob wir blind und taub sind und haben eine Bestandsaufnahme gemacht», erzählt Maleh im Gespräch mit Trojanow. Nach der Veröffentlichung des Berichts*, in dem die Mängel und Empfehlungen zu Gegenmaßnahmen aufgelistet sind, sei vom Innenministerium nur «eine Art Erwiderung gekommen, in der unsere Statements als nicht richtig hingestellt wurden.» In Zusammenarbeit mit anderen Initiativen richtete ÄoG nahe des Zentrums eine medizinische Praxis für Asylsuchende ein, später entstand die Initiative «Medical Aid for Refugees» u. a. mit Organisationen wie Caritas, AmberMed oder Train of Hope, die z. B. an Grenzübergängen und am Westbahnhof ärztliche Hilfe aufstellte.

Aus der Opferrolle nicht herauskommen

In kleineren Einrichtungen erfahren geflüchtete Menschen wohl mehr Unterstützung, es gebe bessere Kommunikation und einen freieren Umgang als in großen Anlagen, wo viele Personen zusammengefasst und verwaltet werden. Margaretha Maleh weiß von vielen kleinen NGOs, die in diese Richtung arbeiten und netzwerken. Gerade als der Bedarf am höchsten war, haben die Menschen unglaubliche Hilfe geleistet. «Mit einem Satz gesagt: Die Zivilgesellschaft hat weniger versagt als der Staat», meint Ilija Trojanow. «Die hat auf alle Fälle mehr getan», so Maleh. Was wesentlich sei, um einem traumatisierten Menschen Halt zu geben, möchte der Autor von der ÄoG-Präsidentin wissen. Die äußeren Rahmenbedingungen seien eine wichtige Voraussetzung dafür, das Gefühl halbwegs in Sicherheit zu sein. «Und Sicherheit kriege ich nicht, wenn ich nicht informiert werde, was ist morgen und übermorgen und wer ist für mich zuständig und wo werde ich jetzt hingebracht.» Auch Vertrauen aufzubauen und respektiert zu werden, nennt Maleh als wichtige Bereiche. «Nicht: Na, du arm´s Hascherl du. Diese mitleidige Tour ist für niemanden von uns hilfreich und noch dazu entwürdigend. Weil wir dadurch das Gefühl haben, wir sind Opfer und kommen aus dieser Opferrolle nicht heraus.»

An diesem Abend ist die Thematik der Flucht dominierend, aus dem Publikum kommen zahlreiche Fragen diesbezüglich, aber auch Erzählungen von Begegnungen mit Exilierten und dem Engagement in Refugee-Initiativen. Im Lauf dieser «Weltbefragung» kommen aber auch Thematiken wie die Struktur von Ärzte ohne Grenzen zur Sprache, ebenso wie verschiedene Formen von Einsätzen und Hilfestellungen oder unterschiedliche Aufgaben und Zielsetzungen der Organisation. Ein wesentliches Ziel ist etwa die Überführung von Nothilfe in eine langfristige Grundversorgung. Margaretha Maleh berichtet von einem Projekt in Papua Neuguinea, bei dem sie selbst im Einsatz war. An einem Krankenhaus wurde von ÄoG ein Zentrum für Opfer sexueller und häuslicher Gewalt eingerichtet. Innerhalb von drei Jahren wurden Mediziner_innen, Pflegepersonal und Sozialarbeiter_innen ausgebildet und Knowhow weitergegeben. «Als wir gesehen haben, dass das gut funktioniert, entsprechendes Personal und Knowhow da ist, haben wir geschaut, dass das Zentrum von einer anderen NGO bzw. dem Krankenhaus übernommen wird, sodass wir uns zurückziehen können.»

Rückzug der Öffentlichen Hand


Trojanow kommt auf die Rollen der unterschiedlichen nationalen und supranationalen Organisationen, NGOs und privaten Initiativen, die sich teilweise Kämpfe um Macht und Aufträge im Bereich Hilfsleistungen liefern, zu sprechen. «Ich habe den Eindruck es gibt Versuche der Einflussnahme großer Geldgeber.» Als berühmtester sei Bill Gates genannt. Margaretha Maleh hat das Gefühl, dass sich aufgrund solcher großer Sponsoring-Aktionen, die Öffentliche Hand oft zurückziehe und die Verantwortlichen meinen, die Aufgaben sollten «mehr und mehr von denen übernommen werden, die das Geld haben.» Eine bedrohliche Situation wie Maleh findet, denn das Gesundheitswesen in einem Land sollte vom Staat gesichert werden. Zur Konkurrenz von NGOs im Hilfsleistungssektor berichtet Maleh aus eigener Erfahrungen im Flüchtlingscamp Domiz (Nordirak), wo innerhalb kurzer Abstände verschiedene Hilfsorganisationen «große Angebote gemacht haben, was sie alles leisten werden und welche Zielgruppen sie versorgen werden und nach zwei Monaten sind die verschwunden.» Es sei schwierig herauszufiltern, welche Angebote seriös und verlässlich seien.

In der Gesundheitsversorgung gibt es ein typisches Nord-Süd-Gefälle. Innerhalb mancher Länder ist aber auch die Ressourcenverteilung äußerst ungleich und der Zugang zu medizinischen Einrichtungen nicht für alle Bevölkerungsschichten gewährleistet. Der Gegensatz, dass mitunter in ein und demselben Land einerseits bestens ausgestattete Kliniken mit erstklassigen auf westlichem Niveau stehenden Therapien und Forschungseinrichtungen vorhanden sind, andererseits andererseits ein Großteil der Bewohner_innen dazu aber keinen Zugang hat, ärgert Maleh. Wie sie Menschenrechte in Hinblick auf Gesundheit definieren würde, fragt sie Ilija Trojanow. Dass zumindest die medizinische Basisversorgung für jeden Menschen erreichbar und leistbar ist, sagt die Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen. «Nicht umsonst sind Menschenrechte vor vielen Jahren für alle Menschen geschrieben worden und nicht für die privilegierten nördlichen Länder.»

INFO:

«Weltbefragung» am 28.1.2016

Margaretha Maleh, geboren in Tirol, Psychotherapeutin und ausgebildete Sozialmanagerin, Mutter zweier erwachsener Kinder. Engagement im Österreichischen Verband für Spastiker-Eingliederung. Seit 2011 Mitglied des ehrenamtlichen Vorstands von Ärzte ohne Grenzen Österreich, seit Mai 2015 deren Präsidentin.

Ilija Trojanow, *1965 in Sofia; 1971 Asyl in Deutschland, Schulbesuch in Kenia, Studium der Rechtswissenschaften und Ethnologie in München, Verlagsgründungen. Seit 2008 Wohnsitz in Wien. Bücher (Auswahl): «Der Weltensammler», «Der entfesselte Globus. Reportagen», «Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte» (mit Juli Zeh), «Der überflüssige Mensch», «Macht und Widerstand», «Meine Olympiade»

* Bericht zur medizinisch-humanitären Lage im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, August 2015

Ärzte ohne Grenzen

Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) wurde 1971 in Frankreich gegründet und ist eine private und unabhängige Organisation, die weltweit in Fall von (Natur-) Katastrophen, in Kriegen und Krisengebieten in erster Linie medizinische Hilfe für betroffene Menschen leistet. Den ersten Hilfseinsatz leistete MSF 1972 nach dem großen Erdbeben in Nicaragua. Die Hilfsorganisation, die sich nahezu ausschließlich über Spenden finanziert, wurde 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Laut Jahresbericht 2015 sind die Auslöser für Einsätze von Ärzte ohne Grenzen zu 55 % bewaffnete Konflikte, 24 % Epidemien und Endemien, 18 % fehlende medizinische Versorgung und 3 % Naturkatastrophen.

Jahresbericht und weitere Info: www.aerzte-ohne-grenzen.at