Die Musterstadt der «Anteillosen»vorstadt

Wiener Architekturtheoretikerin analysiert Belgrad

Wenn man sich von der relativ trockenen Einführung des Buchs Belgrads radikale Ränder. Vergangenheitspolitik und die postpolitische Stadt von Linda Lackner nicht abschrecken lässt, wird man mit einer fulminanten historischen Tour durch Serbiens Hauptstadt belohnt. Auch die grafische Gestaltung des Buches ringt eingangs Aufmerksamkeit ab, doch nach kurzer Gewöhnungsphase ist Begeisterung dafür nicht mehr ausgeschlossen. Die Fachwelt scheint ähnlicher Meinung zu sein, denn Linda Lackner konnte mit dieser in Form und Inhalt schlüssigen und ansprechenden Arbeit den vom Bund deutscher Architektinnen und Architekten vergebenen Preis, die Daniel Gössler Belobigung für junge Architekturtheorie mit nach Wien nehmen.
Die schöne Alliteration «radikale Ränder» bezieht die Autorin nicht im geografischen Sinne auf den Stadtrand von Belgrad, sondern im soziopolitischen auf Orte, in denen «Anteillose» leben. Dieser eigentlich schon alles sagende Begriff stammt vom französischen Philosophen Jacques Rancière und beschreibt sinngemäß Menschen, die im Zuge von Stadtplanungsprozessen im besten Fall nur ignoriert, im schlimmsten vertrieben werden. Belgrad ist zumindest seit dem Planungsbeginn für Neu-Belgrad unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart herauf leider eine Musterstadt in Sachen Geschichtsverdrängung, Vertreibung und Zerstörung. Egal, ob zu Zeiten des Sozialismus und seiner als Fortschrittlichkeit getarnte Ignoranz, ob in der Milošević-Ära, als der städtische Raum mit Narrenfreiheit gleichgesetzt worden ist, oder ob in der aktuellen Epoche des Investor_innenurbanismus, der ein Danaergeschenk wie das Stadtviertel Belgrade Waterfront beschert.
Diese Lektüre lockt raus aus der Komfortzone, hin zu einer radikalen Auseinandersetzung mit den Rändern der eigenen Stadt, wobei «radikal» hier im Sinne von «gründlich», keinesfalls als «rücksichtslos» aufzufassen ist, denn für Letzteres steht mittlerweile «neoliberal».

Linda Lackner: Belgrads radikale Ränder
adocs Verlag 2020
280 Seiten, 15 Euro

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