Die MutterDichter Innenteil

Die Abenteuer des Herrn Hüseyin (38)

Nachdem Herr Hüseyin aus der alten Heimat zurück in die neue Heimat zurückgekehrt ist, lassen ihn viele Eindrücke aus der Urlaubszeit nicht los. Auch wenn er sich auf Wien und seine kleine Wohnung freut, ist es eine Melancholie, die ihn umgibt. Er denkt an die Gespräche mit der Mutter. Er möchte mehr über das Leben der Mutter erfahren.

Viele seiner Cousins und Cousinen kennt Herr Hüseyin nicht. Welcher Sippe die Mutter angehört, möchte Hüseyin wissen. Bevor die Mutter ins Jenseits geht, möchte er möglichst viel über sie erfahren. Jeden zweiten Tag muss sie zur Dialyse. Sie wird mit anderen Menschen aus dem Bezirk mit einem Wagen zur Dialyse gebracht. Jedes Mal dauert dieses Prozedere 4 Stunden. Trotzdem kann sie sich danach nicht einfach hinlegen. Auch wenn Herr Hüseyin sie außerhalb der Stadt zu seinem Garten bringt, damit sie frische Luft einatmen kann, bleibt sie nicht einfach sitzen. Sie muss arbeiten.

Zwanzig Jahre lang hatte sie einen Tumor im Kopf. Dieser Tumor wurde so groß wie eine kleine Orange. So oft war sie im Spital, um herauszufinden, warum sie Kopfschmerzen hatte. Jedes Mal gaben die Ärzte ihr Kopfschmerztabletten. Immer sagten sie ihr, sie habe nichts. Mit der Zeit sah sie schlechter. Die linke Hälfte war wie gelähmt. Der Tumor in der linken Hälfte des Kopfes druckte so sehr auf die Sehnerven, dass das linke Auge immer kleiner wurde, sie die linke Hälfte des Körpers nicht mehr spürte. Zwanzig Jahre lang haben die Ärzte nicht herausgefunden, warum sie Kopfschmerzen hatte. Obwohl sie fast wöchentlich im Spital war.

Ihr Mann, also Hüseyins Vater, war im Ausland. In Österreich arbeiten. Jedes Mal im Urlaub entstand ein Kind. Von dem Geld des Gastarbeiters sahen sie nicht sehr viel im kleinen kurdischen Dorf. Es waren acht Kinder. Die großen Kinder passten auf die kleinen Kinder auf. Damit sie die Aufgaben einer Mutter, aber auch eines Vaters erledigen konnte. Sie hatten noch im Dorf Tiere und Landwirtschaft. Vor den Ferien der Kinder in der Stadt fuhr sie mit der ältesten Tochter ins Dorf, um dort zu arbeiten. Es war genug zu tun. Ab April bis Oktober war sie im Dorf. In der Zeit passten die älteren Geschwister auf die schulpflichtigen Kinder auf. Das war die Zeit, in der die ganze Familie ohne den Gastarbeitervater sich mittels Selbstversorgertum durchschlug. Sie war Vater und Mutter.

Hüseyin verkaufte an den Wochenenden Sesamringe, um ein Taschengeld zu verdienen. Die Nachbarn dachten, wie kann es sein, dass ein Gastarbeiterkind an den Wochenenden Sesamringe verkauft. Viele glaubten, die Gastarbeiter seien reich. Wenn man ein Gastarbeiterkind ist, braucht man nichts lernen und arbeiten. Das Geld würde für sieben Generationen ausreichen. Zumindest ab den 70ern bis in die 90er war es der Glaube in der Heimat Hüseyins!

Wenn sie im Dorf waren, hatten sie Sehnsucht nach der Stadt. In der Stadt entstand das gleiche Gefühl. Wieder Sehnsucht. Eine Geografie, in der die Sehnsüchte so häufig sind wie nirgendwo. Sehnsucht nach dem Vater, Großvater, der massakriert wurde. Sehnsucht der Kinder nach dem Gastarbeitervater. Sehnsucht nach den Briefen des Gastarbeitervaters aus Wien, die Monate brauchten, um das Dorf zu erreichen. Meist waren darin Fotografien aus Wien, die den Vater in majestätischer Pose darstellten. Der Vater war dem Kaiserhaus sehr nah, im Gegensatz zur Mutter. Dem Hüseyin ist es erst in den 80ern, nachdem er nach Wien kam, klar geworden, dass der Vater ein Schauspieler ist. An den Wochenenden hatte er seine schönsten Anzüge angezogen und sich kaiserliche Hintergründe für die Fotografien ausgesucht. Und die ganze Familie im türkischen Kurdistan hat sich so sehr von diesen Posen beeindrucken lassen, dass diese Fotografien im Dorf ihre Runden machten. Nachdem diese Fotografien in allen Händen waren – geknickt –, hängte man sie in eine Ecke des Wohnzimmers zu den anderen Fotos dazu. Vielleicht waren diese Fotografien der Beginn der Kopfschmerzen der Mutter. Mit acht Kindern zwischen der Stadt und dem Dorf pendeln. Und der Vater vermittelt das Wiener Lebensgefühl!

Ihr Hüseyin