Niemand wird sich in seiner Live-Musik-Garage glücklich fühlen, wenn alles, was hier abläuft, sich dem Corona-Reglement unterwirft. Aber ist nicht das glückliche Leben die beste Vorsorge?
Text: Robert Sommer, Foto: Robert Newald
Als die Volksstimme noch eine linke Tageszeitung war und ich das Glück hatte, das lokal- und kommunalpolitische Ressort zu leiten, leisteten wir uns mehrere Sabotagen am vermeintlich professionellen Journalismus. Als wichtigste hielten wir, was wir «antizyklischen Journalismus» nannten: die marktnonkonforme Nichtüberreinstimmung von Mundus und Medium, und wir zuckten mit den Schultern, wenn die werktätige Klasse nicht kapierte, was wir ihr sagen wollten. Beim In-die-Redaktion-Fahren hatten wir in den Bussen und U-Bahnen ja mitgekriegt, worüber die Leute sich echauffierten. Die bestimmten quasi, beeinflusst von anders gestrickten Journalist_innen, das Thema des Tages. Wenn sie sich über das Scheitern einer königlichen Ehe echauffierten, lenkten wir das Interesse auf die Hinterseite des Mondes. Was uns interessierte, interessierte die Massen nicht, was die Massen interessierte, interessierte uns nicht. Wir nannten unsere Haltung Nichtangepasstsein und wurden zu immer größeren Bewunderern unseres eigenen Heroismus. Wäre damals die Corona-Seuche das Tagesgespräch gewesen, hätten wir die Stadt mit einer Malaria-Reportage nach der anderen beglückt. Die Volksstimme wurde dann nur mehr von 2.000 Leuten gelesen.
Auch der AUGUSTIN, die «Nachfolgezeitung der Volksstimme» (laut einer zum Teil ausgezeichnet fundierten Analyse des FP-Paradeintellektuellen Mölzer), sollte vom bürgerlichen Aktualitätszwang, der mir ein Gräuel war, befreit werden. Meine Pensionierung und ein Professionalisierungsschub im Kern der Straßenzeitung, von einer verjüngten Redaktion ausgehend, verhinderten, dass ein solcher journalistischer Autismus sich voll durchsetzte. Seit der Verschlechterung meiner physischen Konstitution im zweiten Jahr der Pension drängt sich das Gesundheitsthema in den Mittelpunkt meines Nachdenkens. Es geht dabei hauptsächlich um das Verhältnis zwischen Parkinson und Corona. An dieser Stelle muss ich die Bedeutung von Parkinson für meinen Lebensalltag skizzieren.
Ich stürze nur einmal pro Woche. Da die Prellungen unter der Woche nicht vergehen, sondern hartnäckig bleiben, akkumuliere ich die Prellungen und werde dadurch immer unbeweglicher. Das ist ein Kollateralschaden von Parkinson, nicht himself. Zum Beispiel bin ich neulich am Antonsplatz in Little Izmir, Favoriten, sehr spektakulär gestürzt – als wollte ich die am Platz versammelte Parallelgesellschaft ein wenig unterhalten und gleichzeitig meine Privatforschung zur Wahrnehmung des Behinderten in der Stadt fortsetzen. War es Erschrockensein, Fremdscham, Berührungsangst oder hilfloses Helfergetue, was die Zuschauer_innen dazu brachte, mich meinen Sturz zu Ende bringen zu lassen, ohne dass mich wer fragte: Sind Sie verletzt? Kann ich irgendetwas für Sie tun? Wie spektakulär, dachte ich mir, muss man bei euch abgebrühten Voyeur_innen eigentlich stürzen?
Dass die Aufmerksamkeit der Gesellschaft von der Realität der Parkinson-Krankheit wegverlagert wird, in Richtung Corona, wird so legitimiert: Parkinson wird nicht übertragen! Wie tickt ihr eigentlich, ihr Coronaphoben? Die Ansteckungsgefahr ist doch nicht das Hauptkriterium der Unerträglichkeit einer Krankheit. Es geht doch darum, ob sie heilbar ist oder nicht. Noch kein_e Parkinson-Patient_in ist geheilt worden. Aber fast alle Corona-Kranken in Österreich sind geheilt worden. Und von denen, die starben, weiß niemand, an welchen Krankheiten sie gestorben sind.
Aus der Vergangenheit weiß man, dass sich die Zahl der Parkinson-Patient_innen in den letzten Jahrzehnten vervielfacht hat. Zwischen 1990 und 2016 hat sie sich weltweit verdoppelt. Mehr als sechs Millionen Menschen haben diese Krankheit. Das liegt zum großen Teil an der steigenden Lebenserwartung. Als Ursache kommen vermutlich auch verschiedene Umweltfaktoren hinzu, die das Entstehen der Krankheit begünstigen. Hält dieser Trend an, dann könnten im Jahr 2040 mehr als 17 Millionen Menschen weltweit an Parkinson erkrankt sein, prognostiziert das Department of Neurology and Center for Health and Technology gemeinsam mit dem Medical Center der University of Rochester. Diese Pandemie würde enorme gesellschaftliche und medizinische Kosten verursachen, schreiben die Forscher_innen, deren Ergebnisse im Fachmagazin Journal of Parkinson’s Disease veröffentlicht wurden.
Ich halte inne und versetze mich in meine andere Rolle – in die eines Kurators des Perinetkellers. Dieses ehemalige Kelleratelier der Wiener Aktionisten freut sich über altgewordene und frischgebackene Kunstschaffende, die schon wieder oder noch immer jene Kunst am schönsten finden, die provoziert. Nimmt mich wer auf die Schaufel, wenn er sagt, die Widersprüche seien das Salz des Lebens, insbesondere der Widerspruch im Künstler, er müsse heute an einem großen und gleichzeitig – aus Infizierungsgründen – an einem Null-Publikum interessiert sein? Man komme mir nicht mit Dialektik, sie ist meine Muttersprache! Was passiert, wenn wir uns so sang- und klanglos aus der Kulturlandschaft werfen lassen, in der wir einige Landstriche nach unserer Façon erobert haben? Einige Kammern der Kulturlandschaft kannst du vergessen. Das sind die höchstsubventionierten Bürokratien der Hochkultur. Es gibt drei Kammern (eine davon ist vierdimensional) in dieser Landschaft, in die wir eindringen konnten, die uns ein bisschen zur Verfügung stehen. Diese drei Sphären der Kulturlandschaft dürfen wir uns nicht wegnehmen lassen.
Das sind die Straße, der Keller und die Nacht. Die Straße steht für den öffentlichen Raum. Die Straße und der Platz sind die Kinderläden der Räte; hier können sich Strukturen formen, die eines Tages das Parlament ablösen werden. Mit Keller meine ich nicht nur unseren konkreten Perinetkeller. Ich denke an sämtliche Orte der freien Auseinandersetzung. Wir können uns auf keine Verhandlung über Besucher_innenzahlen, Maskenpflicht und Abstandsregel einlassen, weil wir die Teilnahme am politischen und kulturellen Leben prinzipiell nicht regulieren können. Das ist das Schönste an der Krise: dass wir niemanden mehr gängeln können. Mit Nacht meine ich wirklich das, wovor uns unsre Eltern gewarnt haben, bis wir sie mit unserem Slogan «Euch die Macht, uns die Nacht» in die Defensive trieben. Dem Herrgott die Nacht zu stehlen, war ein langer Kampf. Resultat waren die Garagen mit der Garagenmusik. Wir vergessen die Nächte nie. Sie waren paniklos. Man wirft mir Verharmlosung vor. Ich bin in bester Gesellschaft. Die Alarmierten von heute waren ein Jahr zuvor, 2019, noch allesamt «Verharmloser_innen», denn ohne Ausnahme galt die «volle Hütte» als Qualitätskriterium.
Für einen Kulturlandschaftsgärtner, als der ich mich fühle, kann eine erwünschte Rückkehr in die Normalität nur dazu führen, dass sich Kunstschaffende wie Kulturvermittler_innen wieder vorbehaltlos freuen, wenn die Schauplätze ihrer Performances «gestürmt» werden von interessiertem und kritischem Publikum, vor allem, wenn die nachgefragte Kunst sich als gesellschaftskritisch oder revolutionär versteht. Ich frage mich wirklich, warum Künstler_innen, selbst wenn sie mit der Attitüde der Autonomie und der Subversivität auftreten, plötzlich von der entstandenen Norm okkupiert sind, jeden Besucher nach dem zwanzigsten nach Hause zu schicken (so für den Perinetkeller vorgeschlagen).
Im Einklang mit der «guten» Presse stigmatisieren «besorgte Bürger_innen«, für die ein maskenloses Gesicht fast wieder als Erregung öffentlichen Ärgernisses gilt, unangepasste Künstler_innen als «Corona-Leugner». Die Anschoberei, leider von vielen Leuten aus der Kunst unterstützt, wird zum Generator absurdester Situationen. Abend für Abend verbringen tausende Menschen eine Stunde in der vollgestopften U-Bahn oder wie Sardinen im Bus, um einer Kulturveranstaltung beizuwohnen, die nicht länger als 45 Minuten dauert, weil sich niemand wohlfühlt in der Anti-Aura der Lockdownkultur, in der sogar das Tanzen verboten ist, weil es zum Bild des Krieges nicht passt. Ist wer der Meinung, in den Sardinendosen der Wiener Linien sei man vor Ansteckung sicherer als im Perinetkeller mit 30 Zuhörer_innen?
Wer vier Jahrzehnte lange nichts anderes gemacht hat, als linke Feste zu feiern und in kalten Kellerlöchern oder auf schrägen Donaukanalwiesen – ohne Angst vor Zeckenbissen und ohne die damals selbstverständliche 5-cm-Distanz in Frage zu stellen – mit anderen von einem Bündnis von Gewerkschaft, Kunst und Bohème zu träumen, der kann mir vielleicht Verständnis entgegenbringen. Ich werde, bevor ich meine ultimative Quarantäne in einer kubanischen Wolke verbringe, das Einzige tun, was ich gelernt habe: die Resonanz der subversiven Aktion steigern. Das heißt auch, den Keller mit roten Ratten zu füllen. Es herrschte keine Angst. Noch heute erinnern wir uns lachend an den Einsturz unsrer Kellerstiege, als 120 Menschen kamen. Wir reklamieren den Moment der Zerstörung in unseren erweiterten Kunstbegriff.