Die Näherinnen von Favoritentun & lassen

Integrationsprojekt «Nachbarinnen»

Das Wiener Integrationsprojekt «Nachbarinnen» stellt Begriffe wie «Selbstvertrauen» in den Fokus seiner Arbeit.  Ergebnis ist ein Wirtschaftsbetrieb, der migrantischen Frauen die Möglichkeit gibt, Grenzen zu überschreiten und aus Isolation auszubrechen. Clemens Staudinger über die ökonomischen und außerökonomischen Okkasionen des Projekts.

Illu: Much

Die Wiener Internistin Christine Scholten betreibt ihre Praxis in Favoriten. Dort wo migrantische Mitbürgerinnen im Straßenbild sichtbar sind und gleichzeitig viele dieser Frauen durch die bestehenden Lebensbedingungen in strikte Isolation gedrängt sind. Sprache, Familie, fehlende Berufsausbildung, religiöse Bräuche etc. sind die Stichworte. Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Renate Schnee gründete Scholten den Verein «Nachbarinnen». Ergebnis ist unter anderem eine Werkstätte, die Frauen, die außerhalb von Arbeit in Haushalt und Familie noch nie berufstätig waren, eine Ausbildung zur Näherin bietet. Die «Näherinnen» sind ein Teilprojekt des Vereins «Nachbarinnen», und Ziel ist es, die Werkstätte auf eigene ökonomische Füße zu stellen. Wobei bei der Frage «geschützte Werkstätte versus selbsttragender Betrieb» nie die Orientierung außer Acht gelassen wird, dass soziale Arbeit unter anderen Aspekten als konventionelle unternehmerische Tätigkeit zu sehen ist.

Neben der Näherei sind Hilfe bei der Schulbildung der Kinder und Hilfe zur Selbsthilfe zentrale Themen des Projektes. Konkret steht am Beginn einer Zusammenarbeit zwischen migrantischen Frauen und dem Verein «Nachbarinnen» ein Vertrag: Die migrantischen Frauen und der Verein definieren die Eckpunkte der Betreuungsarbeit. Alle Partner auf Augenhöhe, versteht sich.

In der Näherei werden Produkte gefertigt, die in Kooperation mit dem Projekt «Garberage» verkauft werden: Decken, Handtaschen aus recycleten LKW-Planen und vieles mehr. Um zu den Produkten zu kommen muss vorerst in die Werkstatt investitiert werden. Und hier zeigen sich bereits die ersten Schwierigkeiten im Förderdschungel und in den Förderbedingungen diverser staatlicher Institutionen. So dürfen bei einem gemeinnützigen Verein zum Jahrensende keine finanziellen Mittel mehr vorhanden sein, sonst wirkt sich dies auf Förderungen im Folgejahr aus. Förderungen werden in den wenigsten Fällen bereits zu Jahresbeginn ausbezahlt, und so sehen sich diese Vereine in der Situation, dass zwar gegen Jahresende – so vorhanden – noch verfügbares Geld ausgegeben werden muss, dann jedoch im Jänner des neues Jahres kein Geld vorhanden ist, um nötige Zahlungen leisten zu können. Für die Leitung des Projektes ist es ohnehin der größte Arbeitsaufwand, zu kontinuierlichen Förderungen wie etwa Sponsorships zu kommen. Die Bestimmung, dass Förderungen per Jahresultimo verbraucht sein müssen, bedeutet, dass Projektleitung und Angestellte nicht entsprechend disponieren können.

Scholten und Schnee initiierten, dass 16 Frauen an der Alpen-Adria-Universität zu sozialen Helferinnen ausgebildet wurde. Der Kurs an der Uni wurde eigens für das Projekt konzipiert. 12 Frauen konnten vom Verein «Nachbarinnen» angestellt werden. Sechs Frauen entschieden sich für weitere Ausbildungen, sechs Frauen sind weiterhin für die «Nachbarinnen» tätig.

Das Projekt wurde eine strengen Prüfung unterzogen: Ökonomen der WU Wien fanden heraus, dass einem in das Projekt investierten Euro ganze 4,6 Euro monetaristischer Gegenwert gegenüberstehen. In dieser Analyse wurde festgestellt, dass dies den besten Wert nach den Werten von freiwilligen Feuerwehren bedeutet.

Es sind aber nicht nur rein ökonomische Eckdaten, die das Projekt so wichtig machen. Christine Scholten: «Jede Frau, die gestärkt ist, wirkt anders auf ihre Kinder.» Und das hat gesamtgesellschaftliche Auswirkungen. Auch ökonomische.

Zurzeit arbeiten neun Frauen aus der Türkei und Ägypten in der Näherei. Für 2016 haben sich die Frauen viel vorgenommen: Flaggen und Kongresstaschen sollen verstärkt produziert werden, und die Frauen halten am Ziel fest, in mehreren Bezirken Nähwerstätten für erstmals (lohn-)beruftstätige Frauen zu instalieren und erfolgreich zu betreiben.