Die Nordsee und die neue RegierungDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten

Anfang Februar 2007 saßen Groll und der Dozent in einer Nordsee-Filiale. Die beiden waren in das Studium von Zeitungen vertieft. Vor Groll lag ein Holzbrett, auf dem sich ein geöffnetes Schweizermesser und ein Stück Schinkenspeck von der Fleischerei Wild aus Gaweinstal im Weinviertel befanden. Hin und wieder schnitt er ein paar Stücke ab und schob dem Dozenten ein paar Scheibchen zu, die dieser mit einem wohlwollenden Nicken entgegennahm. Groll schätzte die Nordseefiliale wegen ihrer hellen Beleuchtung und der bequemen Beistelltischchen, die gut mit dem Rollstuhl unterfahrbar waren. Vom gastronomischen Angebot der Nordsee ließ Groll nur das Mineralwasser gelten, und das auch nur, wenn er die Flasche selber öffnen konnte. Das Essen konnte ihm gestohlen bleiben – abgestandenes Fett, ranzige Saucen, schlecht gewaschene und überteuerte Salate waren seine Sache nicht. Außerdem hatte Groll gelesen, dass der Nordsee-Eigentümer, ein deutscher Großbäcker, Pläne schmiedete, die Ankerbrot-Kette zu übernehmen. Groll betrachtete das als Anschlag auf seine Nahrungskette. Der Schinkenspeck aus dem Weinviertel war sein Protest gegen die Monopolisierung.Aufseufzend legte der Dozent seine Zeitung beiseite und lehnte sich zurück. „Wie, geschätzter Groll, beurteilen Sie unsere neue Regierung und ihr erstes Arbeitsmonat? Denken Sie nicht auch, dass der Start schlecht, die ersten Interviews holprig und das Arbeitsprogramm nichtssagend war“? Groll nahm einen Schluck vom Mineralwasser.

„Es wird Sie nicht überraschen, verehrter Herr Dozent, dass ich Ihre Einschätzung nicht teile. So weit ich es übersehe, arbeitet die neue Regierung nicht schlechter und nicht besser als ihre Vorgängerregierungen der letzten zwanzig Jahre, was ja auch kein Wunder ist, sind doch die wichtigsten Mitglieder dieser Regierung altgediente Schlachtrösser der Regierungsarbeit. Herr Bartenstein und Herr Molterer sind meines Wissens schon seit dem Staatsvertrag des Jahres 1955 Minister. Diese Herren machen keine Fehler mehr, sie administrieren ihre jeweiligen Ministerien perfekt. Die Exportwirtschaft floriert, burgenländische Weine und steirische Äpfel munden von Jahr zu Jahr besser, die Grenzwächter weisen massenhaft Habenichtse zurück und die Mehrzahl der Kinder schafft den Volksschulabschluss. Dass einem die Ausrichtung der Politik nicht gefallen muss, ändert nichts an dem Befund. Im Rahmen des Erwartbaren ereignet sich das Erwartbare. Einzig der Abgang von Ministerin Gehrer stimmt mich traurig. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die neue Ministerin sich zu einer vergleichbaren Hybris aufgeschwungen haben wird.“

„Es heißt, die Dame sei sehr talentiert“, meinte der Dozent.

„Lassen wir uns nicht überraschen“, erwiderte Groll. „Die Talentierten haben in der Politik schon viel Schaden angerichtet.“

„Die Untalentierten aber auch“, versetzte der Dozent.

Groll schüttelte den Kopf. „Die Untalentierten wollen nicht so hoch hinaus. Daher machen sie kleinere Fehler. Ich habe hier eine Aussage des ehemaligen Sozialministers Haupt, jetzt Behindertenanwalt der Republik, die meine These untermauert.“ Er griff zur Zeitschrift. „Hier wird beschrieben, wie Mag. Haupt den bei ihm Vorsprechenden mit Rat und Wort zur Seite steht. Auf die Frage, woran es den Petenten denn am meisten mangle, sagt der Behindertenanwalt: ‚Da muss man die Förderkulisse verdeutlichen, die sich in unserer reizüberfluteten Gesellschaft nicht nachhaltig im Bewusstsein der Betroffenen festgesetzt hat‘ *) Diese Antwort qualifiziert den Mann stracks für ein weiteres Ministeramt. Eventuell käme auch der Job des Wiener Kardinals in Frage.“

„Oder der eines Hutschenschleuderers im Prater!“, entgegnete der Dozent.

Er habe doch gesagt, dass die Untalentierten nicht hoch hinaus wollten, widersprach Groll. Darauf fuhr der Dozent schweres Geschütz auf. Er bezichtigte den talentierten Kanzler Gusenbauer des flagranten Bruchs von Wahlversprechen und einer widerlichen Klüngelei mit einstigen und heutigen FPÖ-Recken.

Wiederum sah Groll sich genötigt, Einspruch zu erheben. Wer an Wahlversprechen glaube, könne genauso gut ans Christkind appellieren, den angeblichen Klimawandel beizubehalten, da die Winter dadurch erträglicher würden.

„Kanzler Gusenbauer hat aus der Geschichte gelernt“, fuhr Groll fort. „Er hat verstanden, dass in Österreich stets rechte Mehrheiten existieren, und das zumindest seit 1918. Die einzige Chance der Sozialdemokratie auf Regentschaft besteht darin, das konservativ-rechte Lager zu spalten. Folglich sind die Sozialdemokraten auf Gedeih und Verderb der jeweiligen Halbnazi- und Hooligantruppe ausgeliefert, wenn sie sich nicht auf die ungeliebte Große Koalition einlassen wollen. Dass es diesmal zur Kanzlerschaft reichte, war ja mehr einem Betriebsunfall der ÖVP als einer gewonnenen Wahl zu verdanken. Da wäre der Kanzler dumm, würde er den FPÖ-Führer nicht mit kleinen Freundschaftsbeweisen an sich ketten. Kreisky hat seinerzeit Schlimmeres getan: Er koalierte mit einer Massenmördertruppe, in seiner ersten Regierung saßen vier ehemalige SS-ler, und Justizminister Broda stellte mit einem Schlag alle Kriegsverbrecherprozesse ein. Gusenbauer hat von Kreisky gelernt, dass man in der Politik schlecht dran ist, wenn man keine Wahlmöglichkeiten hat. Man wird dann nämlich über das Normalmaß hinaus erpressbar.“

„Wie die Regierungsverhandlungen belegen“, meinte der Dozent und fügte hinzu, dass ihn dieses widerwärtige und zynische Spiel um die Macht anwidere.

„Ich gebe Ihnen recht, verehrter Dozent“, sagte Groll. „Manchmal entscheiden sich die Alternativen nur im Ausmaß ihrer Entsetzlichkeit.“

„Ich lese hier, dass aus dem Nordsee-Verkauf nichts wird“, sagte der Dozent nach einer Weile. „Es konnte keine Einigung über den Kaufpreis erzielt werden.“

In diesem Fall denke er darüber nach, bei seinem nächsten Besuch eine Fischsemmel zu erwerben, sagte Groll erfreut.

*) Presse, 6. 2. 2007