Die Parallelwelten der BallsaisonDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. Folge 227

Der Dozent und Groll saßen am Schlingermarkt in Wien-Floridsdorf in einem Café. Sie trafen sich zur monatlichen Zeitungsschau. Der Dozent hatte eine Auswahl von Artikeln mitgebracht, die seiner Meinung nach eine «vertiefende Behandlung» erforderten. Groll hatte nur einen Artikel dabei, er stammte aus der «Wiener Heurigenzeitung».

 

«Geschätzter Groll, lassen Sie uns das Tageswerk beginnen», sagte der Dozent und zog den ersten Artikel aus seiner Tasche hervor. Groll nippte an seinem Espresso.

«Es geht hier – Sie werden es erwartet haben – um die Demonstrationen rund um den Burschenschafter-Ball. Wenn ich mich nicht irre, fiel der Germanen-Ball zeitlich ja mit dem Holocaust-Gedenktag, der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen, zusammen? Eine seltsame Gleichzeitigkeit.»

«Ein Schuft, wer da an Zufall denkt», erwiderte Groll.

«Wie also denken Sie über diesen Ball?» Der Dozent öffnete sein Notizbuch.

«Da ich nur den Feuerwehrball in Pillichsdorf besuche und auch das nur, wenn die Sonnenstürme so weit abgeklungen sind, dass man sich gefahrlos über die Seyringer Ebene ins Erdölland bewegen kann, sehe ich mich außerstande, Wiener Bälle zu kommentieren. Sie sind mir zu obszön.»

«Sie meinen den Burschenschafterball?»

«Ich meine den Jägerball, auf dem die Elite des Landes sich in Loden und Dirndl zwängt. Es ist dies, so entnehme ich der Berichterstattung, der bei weitem größte und umsatzstärkste Ball der Stadt, und auch er findet in der Hofburg statt. Siebentausend Hobby- und Ganztagsjägerinnen und Jäger machen an diesem Tag die Hofburg, die Redoutensäle und die Spanische Hofreitschule (!) zum ländlichen Tanzboden. Mit der Hofburg allein kommt man schon lang nicht mehr aus. Man könnte auch sagen, das provinzielle Österreich der Abteilung Herrgott & Grundbesitz macht am Jägerball seine Aufwartung. Dass ein paar Tage vorher das deutschnationale Österreich der Abteilung Blut & Boden ebenfalls in der Hofburg auffällig wurde, ist kein Betriebsunfall des Faschings, sondern zeigt nur die wahren Machtverhältnisse in diesem Land. Immerhin ist der Jägerball fünfmal so groß wie jener der Schmissträger. Dass die Polizei die Zusammenrottung Rechtsradikaler aus den ostmärkischen und sonstigen Gauen mit zweitausend Mann vor den jüdisch-bolschewistischen Horden schützt, zählt in Österreich ja längst zur Normalität. Den vornehmsten Palast der Republik für jene, deren Vorfahren im Geiste den Holocaust erfunden haben. Bitte sehr, hereinspaziert die Recken und Mädels! Uns ist nichts fremd, weil es letztlich doch auch nur ein Born aus unserem Volkskörper ist, der da walzt und trinkt und lacht. Unter anderem über Judenwitze.»

Herr Groll bestellte einen Slivowitz. Der Dozent schloss sich nach kurzem Zögern an.

«Und draußen demonstrieren jene, die froh sein müssen, der Realität hinter den Judenwitzen nicht zum Opfer gefallen zu sein», erwiderte der Dozent. «Immerhin werden sie von ein paar Tausend jungen Leuten unterstützt.»

«Ich sagte es bereits. Ein getreues Abbild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse», erwiderte Groll.

«Und dass es zu Sachbeschädigungen an Geschäften und – horribile dictu! – einem Polizeiauto kam?»

Der Schnaps wurde serviert, der Dozent prostete Groll zu.

«Entsetzlich. Die entmenschten asiatischen Horden aus dem noblen siebten Bezirk ließen ihrer Angepasstheit freien Lauf. Kaputte Fensterscheiben! Da die Geschäftsinhaber und Nobelketten allesamt nicht versichert sind, werden jetzt Dutzende Modeketten in Konkurs gehen.» Groll erwiderte den Gruß und nahm einen großen Schluck, worauf er sich schüttelte wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt.

«Aber die Glaserer haben Hochkonjunktur!» Nun schüttelte sich auch der Dozent.

«So ist es. Ich werde den Verdacht nicht los, dass der Schwarze Block von den Glasermeistern des ersten Bezirks gedungen wurde, um für eine Umsatzbelebung zu sorgen.»

«Wir sollten noch über Ihren Artikel aus der «Wiener Heurigenzeitung» sprechen», meinte der Dozent. «Bitte sehr!» Der Dozent griff nach Grolls Zeitungsausschnitt und las. «Rollstuhlfahrer warf Molotowcocktail. Ein 56-jähriger Rollstuhlfahrer warf zwei mit Benzin gefüllte brennende Bierflaschen auf die Terrasse des Café Dublin in Wien-Favoriten. Im Café hatte er Lokalverbot, weil er, da es kein Behinderten-WC gibt, das Damen-WC benutzte, worüber sich etliche Damen beim Wirt beschwerten. Der Attentäter wurde zu drei Jahren unbedingter Haft verurteilt.»

«So», sagte Groll, «wird in Favoriten gekämpft.»

(Fortsetzung folgt)