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Pflegende Angehörige stehen unter psychischem und physischem Dauerstress. Sie bekommen rhetorische Anerkennung für ihre «aufopfernde Arbeit», mit der Arbeit selbst aber werden sie alleingelassen. Erst bei massiver Überlastung wird nach Unterstützung gesucht, und nicht schon vorher.Während pflegende Männer überwiegend bereits im Pensionsalter sind, ist mehr als die Hälfte der pflegenden Frauen zwischen vierzig und sechzig Jahre jung. Frauen sorgen sich zuerst um die Kinder, dann pflegen sie selbstverständlich ihre Eltern, und zum Schluss den Ehemann. Das bedeutet, dass sie es sind, die ihren Job aufgeben, massive Einkommenseinbußen hinnehmen, sich also für das eine oder das andere entscheiden müssen.
Das muss nicht so sein: Auch in den skandinavischen Ländern werden achtzig Prozent der Pflegebedürftigen von Familienangehörigen betreut, da gibt es aber eine bunte Palette von Dienstleistungen, die die Familien unterstützen. Das ist ein wichtiger Punkt. Ausgebaute soziale Sicherungssysteme stehen nicht im Gegensatz zu familiärem oder bürgerschaftlichem Engagement. Im Gegenteil. Wenn sie richtig aufgesetzt sind, unterstützen sie die Familie und fördern die Aktivität einer Civil Society. Aus Stockholm kann man von Tageszentren für Demenzkranke oder von mobilen Diensten berichten, die sich Betroffene mehr als drei Stunden am Tag leisten können. Und in allen 275 dänischen Städten und Gemeinden gibt es ambulante Pflegekräfte und Haushaltshelfer_innen, die Tag und Nacht, ausgestattet mit einem Auto und einem Funkgerät für akuten Unterstützungsbedarf, bereit stehen. 24 Stunden, sieben Tage die Woche, für alle leistbar. Zu experimentieren begonnen hat man in Dänemark mit diesem Angebot bereist in den 1980er Jahren.
Es gibt eine Pflegelücke zwischen dem Angebot der bisher etablierten mobilen Dienste und der 24-Stunden-Betreuung zu Hause. In diesem leeren Korridor liegt ein großer Teil des Bedarfs an professioneller und leistbarer Unterstützung für die häusliche Betreuung und Pflege: Ausbau der mobilen Dienste, Teilzeitbetreuung durch Heimhilfen und Pflege-Entlastungsdienste, Nachtdienste, Pflegenachtnotruf, Kurzzeitpflege zu Hause, koordinierte Nachbarschaftshilfe, betreutes und betreubares Wohnen, teilstationäre Angebote wie Tages- und Nachbarschaftszentren.
Mehr Investitionen sind möglich und wünschenswert: sowohl volkswirtschaftlich, weil Jobs entstehen, als auch sozialpolitisch, weil Lücken geschlossen werden, sowie auch familienpolitisch, weil mehr soziale Dienstleistungen im Haushalt erfolgen und Betreuung mit Beruf und Familie besser vereinbart werden kann mit allen interessanten «Nebenfolgen» wie einer höheren Geburtenrate oder einer geringeren Frauenarmut. In den europäischen Ländern mit ausgebautem Dienstleistungssektor ist die Frauenarmut am geringsten und die Geburtenrate am höchsten. Hier entstehen jedenfalls Win-win-Situationen zwischen Fraueneinkommen, Arbeitsplätzen und Pflegeentlastung Angehöriger.
Es gibt eine Pflegelücke, es gibt aber auch Modelle, sie zu schließen. Wir brauchen ein Pflegenetz, das die Belastungen trägt.