Die Proteste im Iran dürfen nicht vergessen werdenBoulevard-Blog

@Reihaneh Hosseini

Boulevard-Blog vom 22.03.2023

Schon über ein halbes Jahr wird im Iran protestiert. Für die Frauen, für das Leben, für die Freiheit. Dass es die Proteste überhaupt noch gibt, ist schon ein Erfolg. Seit September wurden über 500 Personen vom Regime getötet, 30.000 Menschen verhaftet und vier Todesurteile vollstreckt. Mit neuen Protestformen, Online-Aktivismus und weltweiter Vernetzung finden die Iraner:innen Wege, ihren Kampf für die Freiheit fortzuführen.

Morgens, mittags und abends geht Shoura Hashemi neue Telegram-Chats, Privatnachrichten, anonyme Fotos und Videos durch. Die Wienerin versorgt auf ihrem Twitteraccount mehrmals täglich über 42.000 Follower:innen mit aktuellen Informationen aus dem Iran. Alles muss geordnet, gecheckt und verifiziert werden.

Die Iran-Berichterstattung macht sie neben ihrem regulären 30-Stunden-Job. Menschen wie Shoura Hashemi machen es möglich, dass Informationen aus dem Iran die restliche Welt erreichen – und die Proteste nicht in Vergessenheit geraten.

Warum es dieses Mal anders ist

Die Revolutionsbewegung wird seit ihrem Entstehen im vergangenen September vorwiegend online organisiert. Die Generation Z kämpft nicht nur bei den Straßenprotesten an vorderster Front, sondern auch in den Sozialen Medien um weltweite Aufmerksamkeit. Das sei mitunter der Grund, warum die Proteste dieses Mal schon über sechs Monate anhalten, meint Shoura Hashemi: «Bei den letzten Protesten 2019 gab es gleich einen zehntägigen Mass Blackout – heißt, das Internet wurde absichtlich abgestellt, um den Informationsaustausch zu unterbinden. Nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini im vergangenen September konnte das Regime die Verbreitung von Informationen, Fotos und Videos aber nicht schnell genug verhindern. Auch die iranische Diaspora hat gleich reagiert und daraufhin die Weltöffentlichkeit sensibilisiert.»

Neue Formen des Protests

«Die Protestformen und auch die Protestteilnehmer:innen nehmen dieses Mal ein anderes Ausmaß an», erklärt Laila Docekal. Die Journalistin mit iranischen Wurzeln arbeitet beim «Kurier» und schreibt seit Herbst wöchentlich eine Kolumne zu den Geschehnissen im Iran. Nachdem die großen Straßenproteste brutal niedergeschlagen worden sind, findet der Protest nun auf einer anderen Ebene statt, so ihre Beobachtung: «Es gibt viele Graffitis mit regimekritischen Slogans. In den Straßen werden Lieder gesungen und Parolen gerufen. Das alles findet jetzt in kleineren Gruppen statt, da die Sittenwächter an jeder Straßenecke stehen und alle Menschenansammlungen sofort zerstreuen.» «Die Protestaktionen werden auch kreativer. Immer öfter gibt es jetzt zum Beispiel auch Protesttänze, die dann online geteilt werden», ergänzt Shoura Hashemi.

Die Anführerinnen der Proteste seien zwar nach wie vor junge Frauen, aber auch die Protestierenden werden diverser. «Zunächst waren es hauptsächlich Student:innen aus elitären Schichten. Nun schließen sich immer mehr Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten der Bewegung an. Wir sehen auch viele Männer. Es gab Streiks von Raffineriearbeitern, und nach den Giftgasanschlägen in den Schulen sind auch viele Lehrer demonstrieren gegangen. Auch die Älteren wollen gutmachen, was sie vor 44 Jahren verursacht haben. Viele Pensionisten bereuen die Unterstützung des islamischen Regimes», schildert Laila Docekal.

Gleiches Risiko online und auf der Straße

Gefährlich ist der Protest aber nach wie vor. «Das Risiko bei Straßenprotesten und online ist bestimmt gleich», stellt die Journalistin Solmaz Khorsand fest. Auch ihre Eltern kommen aus dem Iran. 2009 hat sie von ihrem Herkunftsland aus über die Grüne Bewegung berichtet. Auch diese Protestbewegung wurde vorwiegend online – über Twitter – organisiert. «Die Online-Präsenz war und ist aber auch extrem gefährlich, da es im Iran sehr gute Ortungssysteme gibt. Die Menschen werden im Nachhinein lokalisiert, verprügelt, mit Elektroschocks malträtiert und anschließend verschleppt.» So ähnlich dürfte es auch bei einer der jüngsten Protestaktionen, einem TikTok-Video von fünf jungen Frauen vonstatten gegangen sein. Die jetzige Protestbewegung hat aber auf jeden Fall dazugelernt, meint die Journalistin: «Die Gesichter werden zunehmend verpixelt und Stimmen verzerrt.»

Die Macht der Sozialen Medien

Die Wirkungskraft der Sozialen Medien wurde erkannt und nun gezielt ausgenutzt, so Khorsand: «Solange Fotos und Videos geteilt werden, solange man die Namen der Betroffenen nennt, umso eher ist auch die Chance da, dass diesen Leuten weniger passiert. Die Präsenz auf Sozialen Medien hat definitiv Schutzcharakter. Ein Beispiel dafür ist der Menschenrechtsaktivist Farhad Meysami. Er war schon vor den neuen Protesten inhaftiert und zeigte sich vom Gefängnis aus solidarisch. Er trat in den Hungerstreik, und die Bilder von seinem Körper gingen um die Welt. Die Tatsache, dass dieses Bild gesehen wurde, führte zu einem internationalen Bewusstsein, wie weit die Leute bereit sind zu gehen, um dieses Regime zu stürzen. Das motivierte einerseits die Demonstrierenden und machte andererseits so viel Druck, dass das Regime sich dazu entschlossen hat, ihn freizulassen.»

Auch Twitter-Bloggerin Shoura Hashemi sieht durch die Präsenz der Proteste in den Sozialen Medien und in der internationalen Berichterstattung erste positive Entwicklungen: «Aktuell gibt es eine Art Hinrichtungsstopp. Das gilt natürlich nur informell und nur für die Protestierenden der Revolutionsbewegung. Andere Hinrichtungen werden weiter durchgeführt, aber bei den Protestierenden waren es bisher nur vier. So unfassbar tragisch und traurig das ist: Ohne Berichterstattung wären es zigfach mehr gewesen.»

Veränderung dauert

Wie lange die Protestbewegungen noch durchhalten werden, können die Austro-Iranerinnen nicht abschätzen. Laila Docekal zeigt sich kämpferisch optimistisch und zitiert Rainer Maria Rilke: «Wenn die Sehnsucht größer ist als die Angst, wird Mut geboren. Genau das sehen wir jetzt im Iran. Der Mut reißt nicht ab, weil die Sehnsucht nach der Freiheit so groß ist.»

Die Revolution ist ins Rollen gekommen, Fakt ist aber, dass ein Systemwandel, wie ihn die iranische Bevölkerung anstrebt, nicht einfach wird. «Bis aus einem totalitären Regime eine lupenreine Demokratie wird – das wird dauern. Es konnten sich ja auch 44 Jahre lang keine unabhängigen Bündnisse oder Parteien bilden. Der Iran muss enorm viel aufholen, was in anderen Ländern längst normal ist», so Solmaz Khorsand.

Wie man die Proteste unterstützen kann

Informationen auf Sozialen Medien reposten und weiterhin über die Proteste sprechen, würde den Iraner:innen am meisten helfen. Außerdem könne jede:r Einzelne Druck auf die Politik ausüben, und zwar in Form eines offenen Briefes oder Mails und darin Sanktionen gegenüber dem Iran einfordern. «Die Protestierenden im Iran erwarten sich von der EU, dass die Revoultionsgarde auf die Terrorliste gesetzt wird», sagt Solmaz Khorsand.

Shoura Hashemi verweist außerdem auf die «Women.Life.Freedom.»-Ausstellung in Wien, wo ab dem 25. März über 50 Kunstwerke ausgestellt und zugunsten der Protestbewegung versteigert werden. «Der Erlös geht an Protestierende und politische Gefangene in den kurdischen Gebieten und Belutschistan, also die beiden Landesteile des Iran, die extrem aktiv sind.» Und dass sich Kunst und Revolution nicht ausschließen, das zeigen ja auch die neuen Protestformen im Iran.

 

Weiterführende Links:

Der Verein ĀNN veranstaltet in Kooperation mit der Akademie der bildenden Künste Wien die gemeinnützige Ausstellung «Woman.Life.Freedom.» am 25. März 2023: https://ann-verein.at/

Folgen Sie Shoura Hashemi auf Twitter:
https://twitter.com/ShouraHashemi

Folgen Sie Solmaz Khorsand auf Twitter:
https://twitter.com/solmazkhorsand

Zur Kolmune und den «Inside Iran» Artikeln von Laila Docekal:
https://kurier.at/author/laila.docekal

 

Bildbeschreibung: Dieses Bild wurde vom der iranischen Künstlerin Reihaneh Hosseini zu Beginn der Proteste im Iran 2022 gestaltet. «Ich wollte in diesem Bild der Bote der Hoffnung und des Sieges sein. Ich wollte einen Schritt vorausgehen und eine Zukunft antizipieren, in der das iranische Volk gewinnen wird.» Reihaneh Hosseinis Werk wird bei der «Women.Life.Freedom»-Ausstellung am 25. März versteigert.
https://reihanehhosseini.com/

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