Die Psyche meiner GroßmutterDichter Innenteil

Meine Großmutter, Fanny Truppe, als Kind Foto: Nives Kramberger Privat

Meine Großmutter hieß Fanny Truppe und wurde zur Zeit der k. u. k. Monarchie als illegitimes Kind in einem Triester Krankenhaus geboren. Das war damals eine «Ehre», denn ihre Mutter, eine Kärntner Slowenin, die als Dienstmädchen im Haushalt eines Triester Geschäftsmannes beschäftigt war, wurde von eben diesem geschwängert. Das wurde in meiner Familie bis in die späten 80er Jahre verschwiegen. Vielleicht, um meine Großmutter zu schonen …?

Anfang des 20. Jahrhunderts durften diese «Kinder der Sünde» keinesfalls bei ihren «gefallenen» Müttern aufwachsen. Die Klosterschule in Divaca war angemessen, eine Adoption durch die strenge und gläubige Tante Ramelli und ihren Ehemann Franc brachte dem Kind annähernde gesellschaftliche Rehabilitation und eine katholische Erziehung.

Sie lernte Kochen, Sticken, Französisch und erfreute mit ihrer glockenhellen Stimme die Ohren des Bischofs. Bis zu ihrem Tod war sie die Königin der Küche und meine sämtlichen Verwandten erstarrten, galt es, ihr vorzukochen oder sie zu bewirten. Ihre Marillenknedl, Fritatten, Kaiserschmarrn, Szegedinergulasch, Polenta, Palatschinken, Hendl und Kohlrouladen waren legendär.

Mein Vater, ihr Ältester und Prinz, verlieh ihr zu jedem Mittagstisch eine virtuelle «Mama-Goldmedaille!» Sie hätte ein Zimmer mit Golddukaten anfüllen können. Meiner Mutter war dies recht, als Aschenputtel bei ihrer bösen Stiefmutter aufgewachsen, hatte sie doch nie kochen gelernt.

Als junge Frau, Anfang der 1920er, schwang Fanny Truppe-Ramelli mit ihrer Freundin Betty gerne das Tanzbein, am liebsten beim Wiener Walzer. Dabei rauschte ihr Kopf so sehr, dass Alois Kramberger, traumatisierter Rückkehrer des Ersten Weltkrieges, unschwer ihr pochendes Herz gewann. Die zügige Hochzeit und die Ehe brachten unter den strengwachenden Blicken der Zieheltern Ramelli katholisch-bürgerliches Ansehen. Leider war mein Großvater nicht nur kriegstraumatisiert, sondern auch extrem eifersüchtig. Das Tanzen wurde für Fanny vermisste Vergangenheit, Bitternis blieb.

Die Familie wohnte gemeinsam mit den beiden Söhnen Vekoslav und Milo und Tante und Onkel in der Strittmajerova in Maribor. Die Ramellis waren 1900 aus Italien dorthin übergesiedelt. Das Haus war ein ehemaliges Magazinlager mit meterdicken Mauern aus Zeiten Maria Theresias , im Arbeiterviertel Tabor. Ich erinnere das Plumpsklo und reges Treiben im Hof.

Milo lernte von Onkel Ramelli das Geigenspiel, der kleine Vekoslav indes trieb sich lieber beim Turnverein Sokol oder beim Fußball herum. Er erlebte vierjährig den Schlaganfall seines Vaters beim Speckschneiden. So hütete meine Großmutter Frančišca nicht nur die Kinder, sondern auch ihren global aphasischen Mann, wusch jahrelang jeden Tag per Hand seine Bettlaken und ihn. Eine Heilige sei sie gewesen, er hätte nie Dekubitus gehabt, hieß es in der Familienlegende. Jahrelang war dies ihr Schicksal. Damals müssen die Mundwinkel meiner Großmutter den Weg Richtung Erde gesucht haben.

In dem Haus stand ihre Mitgift: Eschenschränke und eben jene Psyche, die ich als Kind bereits bewunderte. Das Haus war dunkel und feucht. Es roch in den 70er Jahren nach Mottenkugeln aus Naphthalin. Mir gruselte es dort insbesondere vor dem überdimensionierten Bild der Madonna, die düster über den Betten wachte. Jedoch die Psyche mit ihrem ovalen Spiegel war eine Schönheit. Wie für eine sich darin bewundernde Prinzessin gestaltet.

Mein Vater hatte seine Mutter Mitte der 60er nach Deutschland geholt. Dort schwang sie das Küchenzepter, manchmal auch Teppichklopfer und Kochlöffel auf meinem Po. Sie verwehrte mir, wie allen anderen, ihre Nachfolge in der Küche und nahm ihre Rezepte mit ins Grab. Meine Cousine fürchtete sie, meine Schwester wurde bisweilen von ihr als Hure beschimpft, als sie vierzehnjährig nackt durch die Wohnung lief. Ende der 70er war Nacktsein en vogue. Nicht jedoch für meine Großmutter, die nie ohne Hut das Haus verließ und ihn auch im Café stets aufbehielt.

Ich liebte ihre Kartoffelsuppe, sie war mein Leibgericht. Eines Tages erfüllte meine Großmutter mir märchengleich meinen Herzenswunsch. Drei Tage lang gab es eben jene Lieblingssuppe, dazu ein Märchen, erzählt auf der Küchenbank. Am liebsten mochte ich das von der Schlangenkönigin.

Meine Eltern arbeiteten beide als Ärzte 12 Stunden täglich im Krankenhaus einer entlegenen Ruhrgebietsstadt, in der Kinder Krupp husteten. Ich sah sie meist erst zur Nacht.

Nach dem Tod meiner beiden Eltern und dem Verkauf des Hauses fand die Psyche meiner Großmutter den Weg nach Preußen. Sieben Jahre stand sie in Berlin im «Slowenischen Zimmer». Zahlreiche Freunde wurden vor ihr porträtiert. Mein Angetrauter pflegte zu jammern: «Ich krieg es an der Psyche von der Psyche deiner Großmutter!» Mir schien, meine Großmutter war bei mir, in eben jener Psyche. Nun bereite ich mich innerlich auf meine letzte Reise vor und möchte Gegenstände der Erinnerung und Bedeutung am richtigen Ort, beim richtigen Menschen wissen. Meine Großmutter kochte leidenschaftlich und gut Wiener Küche. Sie war ja in der k. u. k. Monarchie geboren und ich spüre, sie muss zurück, dorthin, wo ihre Seele wohnt. Die Psyche hat vorgestern die Reise nach Wien angetreten. Ihre neue Besitzerin liebt Slowenien, eine gourmetkochende Fotografin und ich liebe sie.

In Berlin sagt man zur Psyche profan Spiegelkommode oder Schminktisch. In Wien, der Wiege der Psychoanalyse, darf die Psyche wieder Psyche sein.

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