Die rebellischen Arbeitslosen von MarienthalArtistin

Über den antifaschistischen Widerstand in Gramatneusiedl, auf den gerne vergessen wird

Im Augustin 352 haben wir beschrieben, wie die soziologische Studie «Die Arbeitslosen von Marienthal» lange nach ihrer Entstehung in Kino und Ausstellungen rezipiert wird. Dabei haben wir uns vor allem auf die Frage nach dem Sinn einer Sozialwissenschaft eingeschossen, die politisch nichts bewegen will – und auf die Überidentifizierung mit der Erwerbsarbeit. Was nicht in Frage gestellt wurde, ist der Wahrheitsgehalt der ständig wiederholten Annahme, «die Marienthaler_innen» seien Anhänger_innen des Nationalsozialismus geworden – weil, obwohl oder während sie erwerbsarbeitslos waren. Waren sie überhaupt alle Nazis? Nein, natürlich nicht.

Es ist empfehlenswert, Dogmen – auch oder vor allem in der Wissenschaft – immer wieder kritisch zu hinterfragen. Als Kinder wurden wir gegen unseren Willen regelmäßig mit Spinat vollgestopft, weil er wegen seines hohen Anteils an Eisen besonders gesund sei, bis erkannt wurde, dass es bei einer der ersten Studien zu diesem Gemüse aufgrund einer falschen Kommasetzung zur Legende vom hohen Eisengehalt im Spinat kam.

 

Ein Problem der Wissenschaft ist: Irgendjemand hat irgendwann einmal etwas, was einleuchtend klingt, publiziert, das wird von einigen anderen Wissenschaftler_innen ohne zu hinterfragen in ihren neueren Publikationen zitiert, was wieder Nachfolgende zitieren usw., bis aus einer Annahme plötzlich eine «Tatsache» wird.

Ähnlich verhält es sich übrigens in der Politik: Spitzenpolitiker_innen wiederholen so oft die Lüge, dass die Leute leider an Politik desinteressiert wären, bis es «die Leute» allmählich selber glauben und nicht mehr zu Wahlen gehen.

Die Erwerbslosen werden – von AMS und Politik abwärts – so lange von diversen Institutionen (wie etwa auch sogenannten «Schulungen» usw.) wie hilflose Tschapperln bevormundet, bis viele der Betroffenen zu glauben beginnen, sie wären arme Tschapperln, die einer Bevormundung bedürfen.

Wütende Erwerbsarbeitslose


Bei aller Wertschätzung für die Leistung und Erkenntnisse der berühmten Studie «Die Arbeitslosen von Marienthal» (von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld, Hans Zeisel und anderen, 1933) führte sie zu einer verhängnisvollen Schlussfolgerung, nämlich «… zeigte im Hauptergebnis, dass Arbeitslosigkeit nicht (wie bis dahin meist erwartet) zur aktiven Revolution, sondern vielmehr zur passiven Resignation führt». Wurde die Erkenntnis dieser Studie je von einer Folgeuntersuchung überprüft? «Stimmt» sie wirklich?

 

Belegt wird die – angebliche – «Resignation» der Erwerbslosen einerseits mit Aussagen der Betroffenen, andererseits durch Beobachtungen: Die Erwerbslosen gingen plötzlich langsam, standen herum, besuchten das Wirtshaus, wussten nichts mit sich anzufangen.

 

Fast gleichzeitig mit der Ausstellung «Die Arbeitslosen von Marienthal» im «Roten Waschsalon» eröffnete das Wien Museum die Fotoausstellung «Edith Tudor-Hart: Im Schatten der Diktaturen». Auf dem Plakat zur Ausstellung ist eine Massendemonstration von Arbeitslosen in Wien aus dem Jahr 1932 zu sehen. Im Vordergrund blicken etwa ein Dutzend Männer zornig, trotzig, manche zweifelnd bis skeptisch in die Kamera. Keiner von ihnen wirkt «resigniert».

 

Andere Fotos zeigen zum Beispiel einen Erwerbslosen, der auf der Straße steht, in den Händen ein paar Zitronen, die er zum Verkauf anbietet, ein anderer, dem ein Bein fehlt und der Krücken neben sich gelehnt hat, bietet Jojo-Spiele an, ein beinloser Invalide sitzt auf einem Rollwagen, vor sich ein Grammophon und bettelt mit dieser Musikunterstützung.

 

Ist das Resignation oder Ausdruck von Eigeninitiative, vergleichbar mit den zahlreichen (und natürlich zu hinterfragenden) «Ich-AGs» der heutigen Zeit?

Lässt sich überhaupt die «geschlossene Gesellschaft» der Arbeitslosen von Marienthal, Ortsteil des 22 Kilometer von Wien entfernten Gramatneusiedl, mit der Situation anderer Arbeitsloser in den Großstädten damals und heute so einfach vergleichen?

Organisierter Widerstand in Gramatneusiedl


Die junge KPÖ hatte vor den Februarkämpfen 1934 den Status einer kleinen politischen Sekte; nach dem 12. Februar 1934 wuchs diese Minipartei in wenigen Monaten zu einer Massenorganisation in ähnlicher Mitgliederstärke wie die Sozialdemokratie an. Die meisten dieser neuen Mitglieder waren enttäuscht von der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) wegen ihrer passiven Haltung gegenüber dem Austrofaschismus – und zumeist arbeitslos. Nach dem 12. Februar 1934 traten ganze Abteilungen des Republikanischen Schutzbundes, der bewaffneten Wehrorganisation der Arbeiterschaft, der KPÖ bei.

 

Ebenso war es in Marienthal: Ein Großteil der Arbeitslosen – vor allem aus den Reihen des Schutzbundes – trat auch dort der KPÖ bei. Viele von ihnen waren dann auch die einzigen, die während der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten.

Aus der Chronik von Gramatneusiedl: «Am 16. Juli 1943 werden der Bauarbeiter Josef Kníže (1908-1944) und sein Bruder, der Bauarbeiter Johann Kníže (1904-1944), verhaftet, am 12. August 1943 der Bauhilfsarbeiter Felix Kolá? (1887-1944); sie werden am 20. April 1944 vom Volksgerichtshof wegen «Vorbereitung zum Hochverrat» zum Tode verurteilt und am 21. Juni 1944 im Landesgericht Wien hingerichtet. Der Maschinenarbeiter Leopold Hadá?ek (1914-1944) wird am 5. Oktober 1943 vom Volksgerichtshof wegen «Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung» zum Tod verurteilt und am 7. Februar 1944 im Landesgericht Wien hingerichtet. Am 8. Oktober 1943 werden der Dreher Wladimir Kubak (1921-1944), der Spinnergehilfe Erich Navratil (1924-1944), der Weber Oswald Smatlak (1921-1944), der Hilfsarbeiter Anton Watzek (1924-1944) und der Gramatneusiedler Drehergehilfe Albert Seifert (1921-1944) wegen «Vorbereitung zum Hochverrat» zum Tod verurteilt und am 10. Mai 1944 im Landesgericht Wien hingerichtet. Albert Seiferts Mutter, die Gramatneusiedlerin Johanna Seifert (1901-1980), wird kurz nach der Verurteilung ihres Sohnes, am 12. Oktober 1943, festgenommen, weil sie sich «vor mehreren Volksgenossen im kommunistischen Sinne geäußert und überdies auch den Führer geschmäht» habe. An diese fünf Gramatneusiedler Opfer des organisierten Widerstands erinnert heute eine Gedenkstätte für die Opfer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus auf dem Friedhof Gramatneusiedl.»

 

Bei den ersten freien Gemeinderatswahlen nach der Zeit des Nationalsozialismus waren die Kommunist_innen nach der SPÖ und noch vor der ÖVP zweitstärkste Partei in der Gemeinde Gramatneusiedl.

Edith Tudor-Hart – Im Schatten der Diktaturen

Ausstellung bis 12. 1. 2014

Wien Museum, 1040 Wien, Karlsplatz 8

Di.-So., 10-18 Uhr