Die Rolle des Wachtelkönigsvorstadt

Das Traisental soll einen weiteren Verkehrsknoten bekommen. Die S-34-Trasse verschont den Privatflughafen eines heimischen Oligarchen und zerstört St. Pöltens aufregendstes Biotop.

TEXT & FOTOS: ROBERT SOMMER

St. Pölten ist die Landeshauptstadt mit dem größten Grünflächenanteil. Eine weitere dieser speziellen Qualitäten ist die zivilgesellschaftliche Reife, die sich in der Vielfalt selbst­organisierter Projekte, in der Vitalität der Organisationen und Vereine, die auf dem Gebiet der Klima- und Mobilitätspolitik tätig sind, und last not least in der Verquickung von freischaffender Wissenschaft und provozierendem Aktivismus ausdrückt. Dieter Schmidradler und Markus Braun zählen zum Kern des partizipativen Netzwerks «Klimahauptstadt 2024», das sich unmittelbar nach dem Scheitern der Bewerbung um den Kulturhauptstadt-Titel gebildet hatte.

Aus der Familie der Würger.

Meine beiden Gewährsleute sind Meister des unbezahlten und unbezahlbaren langen Atems; die Zeit neben ihrer Erwerbsarbeit ist ausgefüllt mit ehrenamtlicher Arbeit, die aus Forschen, Aufklären, Mobilisieren besteht. Markus Braun ist Biologie- und Turnlehrer am Gymnasium in St. Pölten. Der 1990 gegründete Verein LANIUS, dessen Obmann er heute ist, kann als Beispiel dafür gelten, wie das Interesse an Vögeln zu politischem Engagement führen kann. Ohne die Arbeit dieses inzwischen auf 200 Mitglieder angewachsenen Vereins hätte niemand einen Überblick über die bestehenden Biotope in und bei St. Pölten. Besonders gefährdete Biotope können durch den Ankauf der Flächen gerettet werden. Der Eichenbestand an der idyllischen Mündung der Pielach in die Donau ist ein Beispiel dafür. Eine Gesamtfläche von 46 Hektar hat LANIUS auf diese Weise geschützt. Lanius excubitor ist der ornithologische Name für den Raubwürger.
Der Star der Vogelschützer_innen aus der Landeshauptstadt ist freilich der Wachtelkönig (Crex crex). Wenn davon die Rede ist, welche Vogelart wohl als nächste aussterben werde, ist oft er gemeint. Seltsamer- und eigentlich ganz logischerweise ist es das Militär, das für den Wachtelkönig den nötigen Überlebensraum schuf. Wie man es von Allentsteig kennt, sind Truppenübungsplätze die artenreichsten Habitate. Der ehemalige Garnisonsübungsplatz (GÜPL) in Völtendorf bei St. Pölten macht da keine Ausnahme. Markus Braun: «Wir haben hier 140 Vogelarten gezählt, das ist dreimal so viel wie in einer durchschnittlichen Kulturlandschaft.» Auch sonst ist die Fauna hier gut bedient. «Niemand von uns ahnte, dass wir hier, wo einst der Krieg getestet wurde, auf den Urzeitkrebs stoßen könnten.» Die Panzer, so die Ökolog_innen aus St. Pölten, hätten hier nicht wie althergebracht für Lebensraumzerstörung, sondern für dessen Bewahrung gesorgt. Braun schwärmt von den «Panzerbrachen»: Die Panzer verdichten den Boden so, dass das Wasser nach dem Regen nur schwer versickert. Es bildete sich eine Tümpellandschaft, also ein geradezu paradiesischer Naturzustand.

Ersatzflächen für Crex crex.

Der Wachtelkönig ist gesetzlich so geschützt, dass er einen großen Beitrag zur Verhinderung der Ennstal-Autobahn leistete. Mindestens ebenso skandalös wie dieses Transitverkehrsprojekt ist aus der Perspektive der Klima- und Umweltschützer_innen das «Unternehmen S 34», der Plan der autobahnähnlichen Trasse von St. Pölten in Richtung Süden, hinein ins alpenvorländische Traisental. Im Ennstal war es aus topographischen Gründen der Autobahnfinanzierungsgesellschaft ASFINAG nicht gelungen, Ersatzflächen für den Rote-Liste-Vogel bereitzustellen, in St. Pölten lockt die ASFINAG mit solchen Ausgleichsbiotopen. Im Streit beim Bieter_innenverfahren zum GÜPL, zwischen einer Gemeinschaft aus 24 bäuerlichen Betrieben und der Stadt St. Pölten, siegte zwar letztere, aber die Beobachter_innen rätseln, wie sich das auf das Artenvielfaltparadies vor den Toren der 55.000-Einwohner_innenstadt auswirkt. Die Stadtregierung ist für ein Naherholungsgebiet, sie ist aber auch für die S 34. Und weil sich die Autobahnknotenarchitektur (in diesem Monsterwort verstecken sich nicht überraschend die Banknoten) seit den 1970er-Jahren nicht geändert hat, ist das Flächen-Urassen Staatsräson. Die Ausfahrt zur S 34 braucht angeblich den ganzen GÜPL.
Was Krebs krebs oder Crex crex nicht verhindern können, verhindert möglicherweise die Vision einer klimapolitischen Vorzeigestadt. Eine von der Bundesregierung und deren grüner Umweltministerin unterstützte Kampagne «Klimahauptstadt 2025» wäre, so Dieter Schmidradler, völlig inkompatibel mit dem Bau der S 34. Gebt mir neunundneunzig Schmidradlers, und ich gewinne die Schlacht gegen die ASFINAG, mit diesem Gefühl verließ ich das St. Pöltner Nobelwirtshaus, in dem mir der mit allen Wassern gewaschene Experte in Sachen Autoantriebssysteme einen «privaten» Einführungskurs zum Mobilitätswahnsinnn geliefert hatte. Schmidradler ist kein Aussteiger im eigentlichen Sinne, er verbindet bloß seine Kompetenz zur technischen Produktentwicklung mit der Rückbesinnung (inklusive praktische Anwendung) auf nachhaltige Bautechniken. Termini wie «Schlacht gegen die ASFINAG », die ich sozialisierungsbedingt automatisch in mein Sprechen träufle, missfallen meinem Gesprächspartner übrigens enorm.

Zu viel Asphalt am Bauernhof.

Als er etwa vor einem Jahrzehnt den großelterlichen Kleinbauernhof in Waitzendorf bei St. Pölten seiner Philosophie entsprechend zu revitalisieren begann, zelebrierte er quasi die großen Änderungen, die im Dorf eine Mischung aus Anerkennung, Staunen und Skepsis auslösten. Erstens baute er sich ein Holzhaus. Zweitens befreite er den Hof von sämtlichen Asphaltflächen. Drittens ließ er in Teilen seines Gartens Verwilderung zu. Viertens verkaufte er sein letztes Auto und fährt seit sieben Jahren mit dem Klapprad in die Stadt. Und fünftens setzte er den knapp nach seiner Geburt stillgelegten Brunnen wieder instand. Die zur Nachahmung empfohlenen persönlichen Brüche mit der Bauern- und Bäuerinnentradition, die andererseits an das Wissen der Großeltern anknüpften, bilden für Schmidradler eine Einheit mit der großen gesellschaftlichen Wende, die auch die «Verkehrswende» einschließen muss.
Genau so heißt der von ihm mitbegründete Verein, der für die Bewahrung unversiegelten Bodens, für die Reduzierung des Autoverkehrs, für die generelle Verkehrsvermeidung, für die Privilegierung aktiver Mobilität wie zu Fuß gehen und radfahren, für die Verkehrsberuhigung durch die Verlagerung auf öffentlichen Verkehr, für ein Moratorium im Straßenbau und für Mobilitätsangebote, die diskriminierungsfrei und bedarfsgerecht sind, eintritt.
Dieser Katalog des Vereins Verkehrswende liest sich wie eine Liste der Gründe, die für eine sofortige Stornierung aller ­S-34-Pläne sprechen. Was tut der Güterverkehr, der die inoffizielle neue Transitroute, die die großräumige Umfahrung Wiens für LKWs in Richtung Südosteuropa möglich macht, in Wilhelmsburg, wo die neue Schnellstraße enden wird? Er wälzt sich schon vor Wilhelmsburg in die Mariazeller Bundesstraße (B 20) und macht die ehemalige Lilienporzellanstadt zur Lärmhölle. Aus einer Knoflacher-Studie: «Der kritische Bereich der B 20 beginnt dort, wo die S 34 endet. Nämlich im Bereich der Gemeinde Wilhelmsburg. Auf Grund unserer Analyse ist nachweisbar, dass das Projekt nicht der Verkehrslösung dient, sondern dem bequemen und raschen Bau im Grünland ohne Rücksicht auf Folgewirkungen, verkehrliche Konsequenzen auf andere Verkehrsträger und ohne Rücksicht auf die betroffenen Gemeinden in der Folge dieses Projekts.»

Kuriose Unterführung.

Kenner_innen der österreichischen Verflechtung von Baukapital und Großparteien hätten sich gewundert, enthielte die projektierte Schnellstraßentrasse nicht zumindest eine ordentliche Unterquerung, wenn schon keinen Tunnel. Die Tunnelfinanzierung ist, wie sie wissen, eine heimische Variante zur Erzielung privater Gewinne durch umverteilte öffentliche Gelder. Wo sich ein Tunnel an den anderen reiht, ist die STRABAGisierung und PORRisierung der österreichischen Verkehrspolitik am sichtbarsten und die reizende österreichische Landschaft am unsichtbarsten. Auch die S 34, nur neun Kilometer lang, muss zumindest eine Unterführung haben (ab einer Länge von 80 Metern würde man von Tunnel sprechen). Denn der Privatflughafen des Red-Bull-Milliardärs Didi Mateschitz in Völtendorf liegt der Trasse im Weg. Eine Unterführung hilft hier, mit einer Länge von «knapp 80 Metern», wie eine Sprecherin der ASFINAG Auskunft gibt. Und wie viel wird dieses Sonderbauwerk kosten? «In die Errichtung der Unterführung werden», laut ASFINAG, «drei Millionen Euro investiert», doch die Gegner_innen der S 34 schätzen in einer Stellungnahme vom Februar 2019, dass sie Extrakosten in der Höhe von 25 Millionen Euro verschlingen würde, also das Achtfache. Als Gesamtkosten des S-34-Projekts gibt die ASFINAG «ca. 208 Millionen Euro» an.
Jedenfalls dürfte es sich um die kurioseste Airport-Unterführung in der Geschichte des österreichischen Flugverkehrs handeln. Mit diesem Geld ließe sich besser eine kommunale Betriebsgesellschaft gründen, die unter Benutzung der bestehenden Bahninfrastruktur die vom Fetisch des Wachstums gezeichnete Nord-Süd-Achse Herzogenburg-St. Pölten-Wilhelmsburg zu einer Stadtbahn verhilft, die diesen Namen auch verdient.

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