Mischa
1. Kapitel
Mischa, ein kleine dunkelhäutige Gestalt, leicht umfänglich, seine dunklen, großen Augen trugen einen Hauch der südlichen Sonne. Wenn ich in sie blickte, weckten sie in mir das kleine Lagerfeuer meiner barfüßigen Kindheit und in ihnen begegnete ich meinen Liebsten, die schon längst vergangen unter der Asche schliefen …
Grafik: © Silke Müller
Und obwohl ich ihn nicht so oft besuchte, schien unserer Freundschaft nichts im Wege zu stehen.
Sein Lachen war, als würde er gerade einen roten Teppich ausrollen für jeden Gast. Man fühlte sie immer willkommen bei ihm, als wartete er nur auf Besuch, um ihm den Gaumen mit Grand-Kaffee zu verwöhnen, während der Wohlgeruch aufsteigt und ihm seine heimatlosen neun Jahre in diesem fremden Land in Erinnerung ruft …
Nicht nur Grand-Kaffee bot er an, es gab die schmackhaftesten Sachen, jedes kleine Eck an seinem bescheidenen Tisch war ausgefüllt, alles, was er hatte, wurde den Gästen geboten, von Sarma bis zur Plazma-Torte.
Wie ein Haubenkoch
Er bewirtete sie wie ein Knecht und kochte für sie wie ein Haubenkoch. Was auch immer er aus seiner Hand gab, schmeckte hervorragend. Ob seine freundliche, großzügige Geste das Geheimrezept war? Wenn es auch nur Spiegeleier waren, so besaßen sie ein verzaubertes Aroma.
Mischa war nicht nur ein guter Koch, sondern er konnte seine Wohnung für kurze Zeit in Schlaflager verwandeln, wenn bulgarische Verwandte seiner Frau kamen oder Freunde, die dann meistens für ein halbes Jahr blieben. Während sie in seinem weichen Bett schliefen, lag er auf dem Boden und beklagte sich nie darüber.
Er heiratete Para, eine bulgarische Frau, die wenig Bildung und Geld besaß und die drei kleinen Kinder in die Ehe mit brachte. Er sorgte sich um sie wie ein richtiger Vater.
Nicht nur, dass er die ganze Familie und die Verwandten drei Mal am Tag verköstigte, er öffnete eine Baufirma für die Verwandten, verschaffte ihnen Arbeitsplätze, lief mit ihnen auf Amtswege und schenkte ihnen eine Arbeitsbescheinigung und das, obwohl sie meist nur Romanes sprachen und er kein Wort verstand. Er heiratete gewissermaßen die ganze Roma-Siedlung in Bulgarien …
Nicht einmal ein Visum
Mischa war nicht hochgebildet, er war kein großer Denker, er besaß nicht viel, nicht ein einmal ein Visum für Österreich, doch seine Gastfreundschaft und sein Mitgefühl machten ihn zu einem Ehrenbürger. Dieser Mann, der nicht größer war als 168 Zentimeter: Sein Erscheinungsbild glich dem vieler serbischer Roma, sein Akzent verriet, dass er aus Beograd kam. Auf Beograds Boulevards sowie auch auf Wiener Asphalt blieb er unauffällig, doch für seine Freunde war er eine berühmte Figur …
Ich schätze Mischa wie meinen Bruder, seine freundliche Art und sein großzügiges Herz ließen mich und mein Kind bei ihm immer willkommen sein. Er besaß etwas, was viele Südländer verlernt haben – ein leidenschaftlicher Gastgeber zu sein.
Er konnte als Mann Frauen als Schwestern betrachten. Wenn die Kleinen etwas Süßes wollten, dann backte er ihnen noch schnell eine Torte. Nicht nur eine Torte, in seinen Hosentaschen hielt er meist einen Zehner oder 20 Euro, klein gefaltet, um Jovana zu beschenken.
Bei Mischa vergaß man auf Sorgen und Kummer, wir scherzten viel und lachten. Die Zeit blieb stehen und es war nur der Augenblick, der uns beschenkte, während die weltliche Uhr weiter schlug … Viele Stunden vergingen und es schien, als wären nur ein paar Minuten vorbeigezogen.
Etwas gab es doch in Mischas Leben, über das er nie gerne reden wollte. Er sprach nicht gerne über seinen erschossenen Bruder in Spanien und über den Balkan-Krieg.
Und obwohl er vielen helfen konnte, blieb er monatelang in seiner Wohnung, weil er Angst hatte vor Behörden, ohne Papiere angetroffen zu werden, oder gab es da noch etwas?
Warum hat Mischa sich so wertlos gefühlt, weshalb dachte er wenig an seine eigenen Bedürfnisse? Para war eine nette Frau, doch sie war selber bedürftig. Er, der ein Weltmann war, was trieb ihn, diesen Weg zu gehen? War das reine Liebe oder versteckte sich doch etwas, was er als großes Geheimnis ganz tief ihn sich aufbewahrte. Wollte Mischa sein Gewissen beruhigen, das ihn immer wieder an den Grund seiner Flucht erinnerte? Diese Rätsel konnte niemand lösen.
Seit neun Jahren ein Heimatloser zu sein und dann am Ende …
2. Kapitel
Die Sache mit seiner ersten Frau schien er überwunden zu haben. Mit ihr hatte er Igor und Kati, sie lebten in Beograd. Eines Tages, als er abreisen sollte, hatte er da so eine leichte Vorahnung, er blieb in der Nähe und fand seine Frau mit seinem besten Freund im Bett. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um, packte eine kleine Tasche und nahm den ersten Bus, der ihn weit von Beograd wegführte. Die Begräbnisfirma, die er mit seinem alten Vater führte, übergab er seiner Schwester.
Das war nicht der einzige Grund, warum Mischa seine gewohnte Umgebung verließ, es gab auch paar andere Gründe, über die er nie gerne reden wollte …
Am meisten tat es ihm leid, dass er seine Zwillings-Enkelkinder nicht sehen konnte.
Jetzt war er da im 4. Stock in diesem fremden Zimmer, allein, das andere Bettgestell lag leer und war frisch überzogen.
Zwei Tage nach Weihnachten, die Lichterkette, mit der er mit den Kindern ein paar Tage vorher die schöne, große neue Wohnung schmückte, leuchtete noch, während sein Leben hier gerade langsam verlöschte, und die Papiere, die fertig waren, warteten endlich vom Notar abgeholt zu werden.
Kein warmer südlicher Glanz
Doch Mischa lag da, in diesem erhöhten Bett, sein lebendiger Körper war jetzt schlapp, wehrlos sich jeglichem Kampf des Todes zu widersetzen. Seine Augen waren offen und starrten in eine seltsame Welt, kein warmer südlicher Glanz mehr in diesen dunklen, geheimnisvollen Augen, wie von einem seltsamen Nebel gefesselt, als wäre der Nordpol in ihnen eingezogen, als ob der Frost nur wartete, sich über sie zu legen, ihm jede Sicht zu versperren. Der Mund halb geöffnet, wie um noch einem geliebten Menschen etwas sagen zu wollen und doch waren seine Lippen bewegungslos. Das Gesicht von einem gelben Wachs-Korsett eingeklemmt, und für kurze Zeit, als ich mit ihm allein im Zimmer war, hörte ich sanftes Rascheln von Flügeln …
War der Todes-Engel da?
Ich küsste ihn auf die Stirn, die noch warm war, kniete neben seinem Bett und versuchte in den Himmel durchzukommen, mit leisem Schluchzen. Ich bat Jesus, ob er doch Mischa wie Lazarus erwecken könne, während sein Herz leise noch in ihm pochte, es war so, als würde er auf jemanden warten, vielleicht auf seine Enkelkinder, die leben oder auf seinen toten Bruder, der ihm die Pforte des Todes zeigte.
Jetzt, wo alles glattging
Vielleicht hoffte er noch auf ein Wunder – von Gottes Atem noch ein Mal geweckt zu werden, um sich endlich frei in Wien zu bewegen, mit den Kindern am 7. Jänner ein Spanferkel am Tisch zu servieren, eine riesige Plazma-Torte zu backen und viele Freunde und Verwandte einzuladen, denn sie hätten einen Grund gehabt, jetzt, wo sie so eine schöne, große Gemeindewohnung in der Simmeringer Straße bekamen, mit einem riesigen Balkon. Jetzt, wo alles so glattging, jetzt, wo er mit diesen Papieren endlich seine Enkelkinder besuchen konnte und seinen alten Vater, von der Mutter konnte er keinen Abschied mehr nehmen, sie starb letzten Sommer …
Einen großen Verlust-Schmerz und Leere spürte ich in tief in meinem Herzen. Ich wusste, dass ich zu alt sein werde, wenn wieder so ein gute Seele auf dieser dunklen Welt geboren wird. Ich flehte zu Jesus, denn ich war überzeugt, dass dies hier für Gott nur ein kleiner Klacks ist, wie damals mit Dragan vor einem Jahr, der auch im Hanusch-Spital lag. Der Unterschied war, dass Dragan nicht mein guter Freund war, ich wurde nur von Verwandten gebeten, zu kommen und für ihn zu beten. Dragan hatte nur noch eine halbe Stunde vor dem Todes-Eingang und wartete. Jesus und Vater in ihrer Gnade erweckten diese bläuliche Figur, der Todesengel musste alleine zurückgehen.
Er lebt noch und die Familie mit ihm.
Kniend neben seinem Bett flüsterte ich Gebete, doch statt Mischa zu erwecken, brachte ich ihn in den Schoß des Himmlischen Vaters …
Mischa war 23 Jahre alt, als er in am Balkan-Krieg im 91er-Jahr beteiligt war, der Krieg dauerte ein paar Jahre lang.
26 Jahre nach dem Krieg fand man Uran in seinem Inneren …
Was dann zur Folge hatte, dass er Darmkrebs bekam. Wie viele andere, die in diesem Krieg waren. Mit 48 Jahren verließ er diese Welt, am 26. Dezember 2017, kurz nach Mittag.
Ich höre immer noch seinen freundlichen Ton, wie er das letztes Mal sprach, als ich fragte, warum er rote Turnschuhe trug. Er lachte und rief: «Das ist die Farbe der Freude.» Eine Woche danach ging er in eine andere Welt, in der es kein Uran und keine Kriege mehr gibt, wo man kein Visum braucht, wo alle barfüßig gehen und das Rot nicht mehr gebraucht wurde, denn die Freude war dort …
Eines Tages werden wir barfuß Moravac tanzen – mein Bruder!
Gewidmet meinem liebsten verstorbenen Heimat-Freund … Mischa