Herr Groll auf Reisen. 287. Folge
Der Dozent traf seinen Freund an der Tankstelle Brünner Straße/Gerasdorfer Straße. Herr Groll hatte sich neben dem Eingang aufgepflanzt. Vor ihm stand ein Campingtischchen, darauf lagen militärwissenschaftliche Bücher, unter ihnen Thukydides’ «Der Peloponnesische Krieg», Schriften von Theodor Körner und Clausewitz, Che Guevara, Ho Chi Minhs Arbeiten über den Dschungelkrieg sowie Sun Zus Klassiker «Die Kunst des Krieges» aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert.
¡No pasarán! (Sie werden nicht durchkommen!)
Foto: Mario Lang
Aus einem antiken Cassettenrecorder ertönten Freiheitslieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Chile Allendes. «Venceremos … el pueblo unido jamas sera vencido!»
«Geschätzter Freund!», rief der Dozent und lehnte seine Rennmaschine an eine Zapfsäule. «Was ist geschehen? Steht Floridsdorf vor der Revolution? Vielleicht, weil die Wahlkarten für die Präsidentenwahl fehlerhaft sind, eine Vorsorge für eine neuerliche Wahlanfechtung? Oder ist Ihnen das Heimatgefasel der Kandidaten zu viel geworden?»
Groll schüttelte den Kopf. «Es gab für mich nie eine Heimat, und seit kurzem gibt es auch kein Zuhause mehr. Die GESIBA und die Firma Lederbauer haben mein Heim zerstört. Ich bin ein Floridsdorfer Binnenflüchtling.»
Der Dozent setzte sich auf seine Fersen. «Erzählen Sie, um Himmelswillen!»
«Lassen Sie bloß die Himmlischen aus dem Spiel», sagte Groll bitter.
«Verzeihen Sie», sagte der Dozent schuldbewusst. «Ich bitte höflich um eine Erklärung.»
Groll nickte gnädig: «Wie Sie wissen, wohne ich seit November 1985 in der Gerasdorfer Straße, in einer modernen, sonnigen Behindertenwohnung.»
Das Musikgerät spielte «Hans Beimler, Kamerad.»
«Was soll sich daran ändern?», warf der Dozent ein. «Falls man Sie nicht wegen Ihres querulatorischen Verhaltens in ein Heim abschiebt …»
«Danke für die Diagnose», sagte Groll und fuhr in seinem Bericht fort: «Die Hausverwaltung hat in Tateinheit mit einer oberösterreichischen Fensterfirma beschlossen, dass neue Fenster einzubauen sind, aber nicht nur die Fenster, auch die Fensterstöcke werden ausgetauscht. Nun wurde mein Bau aus solidem Stahlbeton errichtet. Er legt Zeugnis ab für den ewigen Ruhm des kommunalen Wohnbaus. In meiner Wohnung einen Nagel einzuschlagen, geschweige denn einen Fensterstock herauszuschremmen, kommt der Wirkung einer Panzergranate, abgefeuert aus zehn Metern, gleich. Was sage ich, eine Granate reicht nicht hin. Die modernen Granaten sind auch nicht mehr das, was sie in der Schlacht am Kursker Bogen 1943 noch waren.»
«Immerhin die größte Panzerschlacht, die der Planet gesehen hat», sagte der Dozent.
«Sie ist das Vorbild für den Fenstertausch genannten Frontalangriff auf meinen Gemeindebau.»
«Eine Parallele zum Bürgerkrieg 1934. Auch damals wurde auf Gemeindebauten geschossen.»
«So viel zur historischen Kontinuität», sagte Groll. Es ertönte das «Lied der Interbrigaden».
«Dabei ist Norbert Hofer noch gar nicht Oberbefehlshaber des Heeres», setzte der Dozent hinzu. Groll ignoriert den Einwurf.
«Wie Sie wissen, ist meine Wohnung als Behindertenwohnung ausgewiesen. Mehr Platz in der Küche und im Badezimmer, tiefer gesetzte Fensterbeschläge. Und eben diese Errungenschaften werden jetzt beseitigt. Die neuen Fenster weisen keine tiefer gesetzten Beschläge auf. Ich kann die Fenster daher selber nicht mehr öffnen. Dazu kommt, dass die neuen Fenster zehn Zentimeter höher sind als vorher. Meine Nachbarin, eine wunderbare Dame, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt, ließ die Blumen im Vorgarten so setzen, dass sie sich am Anblick der roten Rosen erfreuen konnte. Nun sieht sie ihre Blumen nicht mehr.»
«Für einen Stehenden sind zehn Zentimeter ein Klacks, für einen Menschen, der im Rollstuhl sitzt, ist das eine Welt», sagte der Dozent. «Die GESIBA lässt allen Ernstes in eine Behindertenwohnung Fenster einbauen, aus denen man nicht mehr hinaussieht?!»
Groll fuhr fort. «Meine kleine Welt wird auf diese Weise noch einmal kleiner, eine Einstimmung auf den Sarg sozusagen. Weiter: Die alten Doppelfenster wurden von mir mit Jalousien ausgestattet. Die sonnige Wohnung wäre sonst im Sommer eine Sauna gewesen. In Schlaf- und Arbeitszimmer ließ ich elektrische Jalousien montieren. All das wird jetzt herausgerissen, und das ohne Ersatz. Ich könnte allerdings bei der Fensterfirma Funkjalousien mit Solarantrieb zum Preis einer Weltreise erwerben.»
«Jetzt verstehe ich, wieso Sie auf dem Kriegspfad sind», rief der Dozent.
Ernst Busch sang nun das Lied «Halt stand, rotes Madrid». Herr Groll erhob die linke Hand, winkelte sie auf Schulterhöhe ab, ballte die Faust und sang mit. «Das Weltall dröhnt / die Menschheit glüht / der Erdball singt dein Heldenlied / Millionen singen mit: Halt stand, rotes Madrid!»
Mit offenem Mund hörte der Dozent zu.