
Am 5. November 2018 stürzten in Marseille zwei Häuser ein und begruben acht Menschen. Naturkatastrophe, sagt die Stadtregierung. Verdrängungspolitik, kontern die Bewohner_innen. Text und Fotos: Eva Schörkhuber
Die Rue d‘Aubagne führt mitten durch Noailles, an den afrikanisch-arabischen Marktständen, an kleinen Gassenläden vorbei, hinauf in das Viertel rund um Notre Dame du Mont mit seinen schicken Vintage-Boutiquen. Die Bewohner_innen von Noailles sprechen viele Sprachen, auch die Wände und Fassaden sind beredt: Unzählige Graffiti werfen ihre wütenden, humorvollen und trotzigen Botschaften auf die Straße. Nur dort, wo bis zum Morgen des 5. Novembers 2018 die Häuser Nummer 63 und 65 standen, schweigen die Mauern. Ein weißes Loch klafft in der Häuserzeile, kein Farbfleck, kein Schriftzug hat sich niedergelassen auf den Ruinen, neben denen Häuser stehen, deren Fassaden rissig und deren Eingänge mit Vorhängeschlössern versperrt sind.
Haus aus Karton.
Ein paar Meter weiter, auf einem kleinen Platz, hängen die Fotos der acht Menschen, die von den einstürzenden Häusern begraben wurden. Die Gesichter von Fabien, Marie-Emmanuelle, Simona, Niasse, Julien, Ouloume, Taher und Chérif werden von üppigem Grün, von Blumen und Kerzen gerahmt. Gegenüber, auf einem Transformatorenhäuschen, sind Plakate angebracht. Aufrufe zu Kundgebungen und Fotos von verschiedenen Gegenständen, die von kurzen Schilderungen begleitet werden. Auf einem dieser Fotos ist eine Frau zu sehen, die ein Haus aus Karton mit einem «fragil»-Banner über ihrem Kopf hält. Daneben steht: «Als die Gebäude einstürzten, war ich zu Hause, wenige Meter von dort entfernt. Ich erhielt einen besorgten Anruf, so habe ich erfahren, was passiert war. Ich ging hinaus, sah die Staubwolken, die Menschen, die sich vor den in größter Eile errichteten Absperrungen drängten. Ich habe einige Tage gebraucht, um mich aus meiner Schockstarre zu lösen, das Ausmaß der Katastrophe zu begreifen und aktiv zu werden. Ich erinnere mich an den genauen Moment, an dem mir das alles bewusst wurde: Während des Trauermarsches am 10. November schwangen die Bewohner_innen die Häuser aus Karton. Plötzlich habe ich verstanden, dass die Eigentümer_innen, die Stadtverwaltung, die Vermieter_innen, die Menschen in Häusern aus Karton leben lassen, dass man absichtlich das Risiko eingegangen ist, dass sie jeden Moment über den Köpfen zusammenbrechen. Seit Jahren gehe ich an Häusern vorüber, die in einem schlechten Zustand sind, aber ich habe nicht gesehen, nicht verstanden, dass sie aus Karton sind. Das werde ich mir niemals verzeihen. Man muss darauf hinarbeiten, dass niemand mehr in einem Haus aus Karton wohnen muss.»
Stadtverwaltung versus solidarische Stadt.
Seitens der Stadtverwaltung wird nichts unternommen, um zu verhindern, dass Menschen in «Häusern aus Karton» wohnen müssen. Ganz im Gegenteil: Eines der eingestürzten Häuser war in ihrem Besitz, die Einhaltung von Auflagen zur Instandhaltung von Wohnhäusern im Privatbesitz wird nicht kontrolliert. Laufend werden Häuser wegen Einsturzgefahr geräumt – nicht saniert. Die vordergründig evakuierten, tatsächlich aber delogierten Menschen müssen binnen kürzester Zeit ihre Wohnungen verlassen und werden von der Stadtregierung ohne längerfristige Lösungen über ein weites Gebiet verstreut untergebracht.
Nicht die Verantwortlichen kümmern sich um die Menschen, sondern jene solidarische Stadt, wie sie von Gruppen wie dem collectif du 5 novembre gelebt wird. Auf der einen Seite die Stadtregierung unter dem Bürgermeister Gaudin – dieser ließ trotz einer bereits 2015 veröffentlichten und dem Ministerium für Wohnbau vorgelegten Studie, die belegt, dass von insgesamt 800.000 Einwohner_innen 100.000 in gefährdeten Gebäuden leben, nach dem Einsturz verlautbaren, dass dieser von starken Regenfällen verursacht worden sei. Auf der anderen Seite jene Menschen, die in den betroffenen Vierteln leben oder sich mit deren Bewohner_innen solidarisieren, die Netzwerke für Volxküchen, Unterbringungsmöglichkeiten, juristische Beratungen und materielle Unterstützungen knüpfen, Kundgebungen organisieren und Erinnerungsprojekte initiieren.
Erinnerungsobjekte.
In der Bar du peuple hinter der Métro-Station Noailles treffe ich Laura und Yves vom collectif du 5 novembre. Die beiden haben anlässlich des Jahrestages des Einsturzes Objekte, die die Bewohner_innen von Noailles damit verbinden, und die dazugehörigen Erzählungen gesammelt. Die Plakate in der Rue d‘Aubagne, wenige Schritte von den schweigenden Ruinenmauern entfernt, gehören zu ihrem Erinnerungsprojekt. Neben konkreten Gegenständen wie dem Haus aus Karton, einer Eisenkette, einem Fernseher, einer gelben Regenjacke oder Tieren finden sich darunter auch immaterielle Objekte wie ein Albtraum, ein Alarm und das Kollektiv. Viele der Erzählungen sind geprägt von dem Gefühl der Hilflosigkeit, von posttraumatischen Belastungen – zum Beispiel der Fernseher, der seit dem Einsturz der Häuser ständig läuft, da die Stille nicht mehr zu ertragen ist –, aber auch von der Notwendigkeit, sich als solidarische Stadt gegen die Stadtverwaltung und deren brutale Verdrängungspolitik zu wehren.
«Derartig ungerecht».
Mohammed, ebenfalls Mitglied des collectif du 5 novembre, kommt in die Bar, wechselt ein paar Worte mit Yves und Laura. Er lädt uns alle zum Abendessen in seine Wohnung ein. Laura kann nicht mitkommen, sie muss sich neben vielen anderen Dingen darum kümmern, dass nicht auch das Haus, in dem sie wohnt, von der Stadtverwaltung abgeriegelt wird. Mohammed und seine Mitbewohnerin Annemarie kochen regelmäßig für delogierte Menschen. Sie erzählen von Bekannten, denen sie beim Hals-über-Kopf-Übersiedeln geholfen haben, davon, wie sie Bücher, Platten, Geschirr zurücklassen mussten, wie die Polizist_innen, die die sogenannte Evakuierung begleiten sollten, Möbel und Sanitäranlagen zerschlugen. «Auf dass die Bewohner_innen auch wirklich nicht mehr zurück können.»
Neben dem Foto von der gelben Regenjacke lese ich: «Sie schützt mich vor dem Regen, wenn ich Sport mache, sie ist mein Dach. Aber sie schlägt auch zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Bewegung der Gelbwesten begann ungefähr eine Woche nach dem 5. November, und in meinem Kopf überlagern sich die beiden Ereignisse. […] Als ich Marseille ins Gesicht sagen wollte, dass mir die Stadtverwaltung 10.000 Euro in Rechnung gestellt hat für meine Unterbringung im Hotel, habe ich meine gelbe Regenjacke angezogen und bin zu einer Demo der Gelbwesten gegangen. Auf mein Schild habe ich geschrieben, dass die Stadtverwaltung 9.056 Euro verlangt für die Hotelrechnung, obwohl ich ein Opfer der Delogierung war. Ich fand das derartig ungerecht.»
Das Schweigen der weißen Ruinen in der Rue d‘Aubagne hallt in der ganzen Stadt wider, bricht sich an den neu renovierten Fassaden im Alten Hafen, rüttelt an den Baustellen, an denen teure Wohnkomplexe entstehen, schlägt seine Schneisen in die Betonmauer, die rund um einen ganz in der Nähe von Noailles gelegenen Platz errichtet worden ist, um die von oben angeordnete «Erneuerung» des Platzes vor den Demonstrationen dagegen zu schützen. Die Stadtverwaltung hält an ihrer zynischen Aufwertungspolitik fest, sie schweigt, riegelt ab, lässt die Polizei räumen und Tränengas versprühen. Die solidarische Stadt schweigt nicht. Sie begehrt auf, indem sie dokumentiert, erinnert, sich unter die Arme greift, ihre Wut und ihren Schmerz artikuliert an den Wänden und Fassaden, bei Demonstrationen und in Songs. Sang- und klanglos lassen sich die Bewohner_innen nicht aus dem Stadtzentrum vertreiben.
Zur desaströsen Politik der Stadtverwaltung im Detail siehe: Marseille: Einstürzende Altbauten. Eine mörderische Mischung aus Klientelismus und Gentrifizierung, von Lou Marin. In: Graswurzelrevolution Mai 2018. graswurzel.net