Die Autorin und Journalistin Leïla Slimani beschäftigt sich oft mit gesellschaftlichen und staatlichen sexuellen Regeln. Und damit, wie Menschen, insbesondere Frauen, damit umgehen. Ihr Essay Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt gibt es unter dem Titel Hand aufs Herz auch in Comicform. Martin Reiterer (Text) hat beide gelesen.
Die Stichwörter Frauen, Männer und Islam rufen hierzulande augenblicklich Zuschreibungen aller Art hervor, die in hitzigen Debatten gern leidenschaftlich vertreten werden. Woran es allerdings solchen Auseinandersetzungen, die nicht selten zwischen Überheblichkeit und Angst changieren, leider allzu oft mangelt, ist ein gründliches Wissen und eine an Tatsachen orientierte Diskussionsform, die Menschen miteinbezieht, die sich auskennen. Wer daran interessiert ist, dem sei Leïla Slimanis ausgezeichneter Essay Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt mit Nachdruck empfohlen.
Begehren und Moral.
Die 1981 in Rabat in Marokko geborene französisch-marokkanische Schriftstellerin, die ein Studium der Politik an der renommierten Universität Sciences Po in Paris absolvierte und derzeit zu den wichtigsten Stimmen der französischen Literatur gezählt wird, liefert in Sex und Lügen ein schonungslos aufklärendes Bild einer gespaltenen Gesellschaft im Königreich Marokko, in dem der Islam Staatsreligion ist. Das Land leide unter einer verheerenden «sexuellen Misere», so die Autorin, die aus einem Missverhältnis zwischen religiös-staatlicher Gesetzgebung und den Bedürfnissen der Menschen entstanden sei. Die Folge, so Slimani, sei eine kollektive «Schizophrenie»: Mit Scheinheiligkeit und Verlogenheit werde nach außen hin eine Moral vertreten, die tatsächlich nicht einhaltbar sei und im Verborgenen im großen Stil sowieso umgangen werde. Im Kern geht es dabei um eine Reihe rigoroser gesetzlicher Verbote zur Sexualität von Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe (woran sich viele junge Leute ohnehin nicht halten würden) über Homosexualität bis hin zur Abtreibung, wodurch sexuelle Handlungen generell mit Angst, Scham und Schuld verknüpft werden. Die Erfüllung eines großen Teils der sexuellen Bedürfnisse hat die Gesellschaft – das ist ein offenes Geheimnis – auf die Ebene der Sex-Arbeit verbannt, die öffentlich entweder totgeschwiegen oder verdammt wird.
Dieser Befund ist das Ergebnis vertrauensvoller, offener Gespräche zwischen der Autorin und einer Reihe marokkanischer Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Gekommen ist es dazu im Jahr 2014 anlässlich einer Lesereise mit ihrem ersten Roman Dans le jardin de l’ogre (All das zu verlieren erscheint im Frühjahr 2019 auf Deutsch), als die Schriftstellerin in Marokko von einer Leserin angesprochen wurde, die sich schließlich der Autorin anvertraute und unverhohlen über ihre Sexualität und die verhängnisvolle Situation für Frauen zu sprechen begann. Dazu muss man wissen, dass Slimanis Protagonistin Adèle, unglücklich in ihrer Ehe wie einst Madame Bovary, sich entscheidet, ungehemmt ihren sexuellen Begierden nachzugehen. Der Roman über eine Frau, die laut Autorin «in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen» darstellt und die in Frankreich teils Entgeisterung hervorrief, da man an eine franko-marokkanische Autorin andere (klischeehafte) Erwartungen herantrug, war für Slimani allerdings ein Türöffner. Die Autorin, die bereits als Journalistin unter anderem für das Magazin Jeune Afrique (Junges Afrika) geschrieben hatte, nutzte die Gelegenheit, kehrte ein weiteres Mal nach Marokko zurück und traf sich (vorwiegend) mit Frauen, darunter Ärztinnen, Soziologinnen, Radiomacherinnen, aber auch Sex-Arbeiterinnen oder etwa ihrer alten Kinderfrau, die freimütig von ihren sexuellen Erfahrungen und den Eindrücken davon erzählten, wie mit Sexualität umgegangen wird.
Offene Gespräche.
2017 erscheinen die aufschlussreichen Gespräche, eingewoben in die luziden Reflexionen Slimanis. Dass die Schriftstellerin ein Jahr zuvor für ihren zweiten Roman Dann schlaf auch du mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, zeigt nicht alleine, welche Rolle Slimani innerhalb des französischen Literaturbetriebs spielt, sondern lässt auch ahnen, welches Gewicht ihr hochpolitischer Beitrag zum Thema einnimmt, der zufällig in dem Zeitraum erschien, als die #MeToo-Debatte ins Rollen kam.
«Als Jugendliche habe ich verstanden, dass meine Vagina alle etwas anging. Die Gesellschaft hatte einen Anspruch auf sie.» Die Autorin Slimani, die schließlich auf eigene Beobachtungen zurückgreifen kann, bringt die Widersprüche der Gesellschaft haarscharf auf den Punkt. Mit dem alles bestimmenden Mythos um die Jungfräulichkeit, der Frauen einer freien Entscheidung über ihre Sexualität beraubt, wird der Frauenkörper de facto zum Gemeineigentum. Nicht nur, dass den Frauen die alleinige Verantwortung für den Erhalt des intakten Hymens aufgezwungen wird, da die männliche Jungfräulichkeit schließlich nicht Gegenstand von «Keuschheitszertifikaten» ist, weiblichem Sex wird zudem kein Anspruch auf Lust und Vergnügen zugestanden.
Da schließt sich ein Kreislauf von Angst, Geheimhaltung, Frustration und dem Gefühl der Fremdbestimmung, der nur schwer zu durchbrechen ist, wie die Berichte der Frauen bezeugen. Während diese Umstände darüber hinaus noch die Gewalt befördern, deren Thematisierung für die Frauen gleichermaßen verhängnisvoll ist, betrifft das «sexuelle Elend» letztlich einen Großteil der Gesellschaft: «Die Sexualität der jungen Leute ist gestohlen», formuliert es eine der Gesprächspartnerinnen im Buch.
Der Staat (über)wacht.
Wie zur Demonstration dieser Aussage ereignen sich im Sommer 2015 in Marokko gleich mehrere «Skandale»: So löst der zuvor in Cannes gezeigte Film Much Loved von Nabil Ayouch über Sex-Arbeiterinnen in Marrakesch heftige Debatten aus, vor allen aber den Zorn der Staatsorgane und anderer. Ohne ihn gesehen zu haben, verbietet der Kulturminister seine Vorführung in Marokko, da der Film das tugendhafte Bild der marokkanischen Frau beschädige. «Wenn dir in Marokko jemand dein Spiegelbild zeigt, zerbrichst du den Spiegel.»
Der ausführlich recherchierte Film zeigt einerseits auf den sozialen Aspekt von Sex-Arbeit, von der tausende Familien leben, seziert indirekt aber auch das Selbstbild der Männer, die durch ihren Reinheitskult die Frauen zum Schmuckstück degradieren, das man vor ihren Blicken schützen muss. Hasserfüllte Polemiken und Proteste haben auch die Auftritte einer wenig verhüllten Jennifer Lopez oder der Gruppe Placebo zur Folge. Dessen Bassist betritt mit der durchgestrichenen Zahl 489 die Bühne, um gegen den Gesetzesartikel zu protestieren, der Homosexualität unter Strafe stellt. In der angeheizten Situation kommt es zu Gewaltakten, die schwelenden Konflikte gelangen vor aller Augen zum Ausbruch. Als schließlich zwei junge Frauen von einer aufgebrachten Menge wegen ihrer als zu kurz befundenen Röcke bedrängt werden, entfacht sich eine enorme Welle der Solidarität einer marokkanischen Zivilgesellschaft.
Gleich nach Erscheinen von Sex und Lügen hat die Autorin zusammen mit der Zeichnerin Laetitia Coryn die Erzählungen der Frauen zu einem Comic verwoben: In Hand aufs Herz fallen die warmen Farben auf (koloriert von Sandra Desmazières), die eine zentrale Intention Slimanis ins Visuelle übersetzt. Denn keinesfalls spürt man in ihren ungeschönten Darstellungen und Analysen den arroganten Zeigefinger der Besserwisserin. Bei aller harten Kritik geht es der Autorin darum, den Frauen ihre Stimme zu lassen, sie nicht auf die Opferrolle zu reduzieren und Stereotype zu vermeiden: «Man muss sich einmal klarmachen, welchen Mut diese Frauen beweisen, die hier Zeugnis ablegen, wie schwer es ist, in einem Land wie Marokko aus der Reihe zu tanzen und sich nicht konform zu verhalten.» Durch die präzisen und differenzierten Beschreibungen einer beklemmenden Situation deutet Slimani auch eine Hoffnung an, die diese Frauen – aber auch eine junge Generation von Männern – für die marokkanische Gesellschaft darstellen. «Wir sind nicht unsere Kultur, sondern unsere Kultur ist das, was wir daraus machen.»
Leïla Slimani: Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
btb Random House, 2018
208 Seiten, 12,40 Euro
Leïla Slimani / Laetitia Coryn: Hand aufs Herz
Aus dem Französischen von Kerstin Behre
avant-verlag, 2018