Die Sozialunion? Ein Wintermärchentun & lassen

Für "Unterschicht" der EU-BürgerInnen ist Bewegungsfreiheit nicht vorgesehen

Menschen aus Polen, Ungarn, der Slowakei, Rumänien oder Bulgarien sind BürgerInnen der EU. Nach Artikel 18 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) steht ihnen das Recht zu, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Anders hätte das Versprechen, aus der Wirtschaftsunion auch eine Sozialunion zu machen, keine Glaubwürdigkeit. Das Studium des «Kleingedruckten» im EGV führt freilich zur Erkennntis, dass für die Ärmsten aus den oben aufgelisteten Ländern diese Bewegungsfreiheit schlichtweg nicht existiert.Das große Geld hat, anders als die kleinen Leut, große Bewegungsfreiheit. Die Raiffeisen-Gruppe lässt in ihren mehr als 3000 osteuropäischen Geschäftstellen rund 15 Millionen Kunden von 59.000 Raiffeisen-Beschäftigten betreuen. Ihr Kapital bewegt sich hin und her, als ob es keine Grenzen gäbe. Viele dieser 15 Millionen Kunden würden es ihm gerne gleich tun: sich bewegen, als ob es keine Grenzen gäbe. Sich dorthin bewegen, wo man 1000 Euro für einen Monat Arbeit zahlt und nicht 150, wie in der Herkunftsregion. Das «Kleingedruckte» im EGV ist der sprichwörtliche Strich durch ihre Rechnung. Im Prinzip gebe es überall in der EU ein Aufenthaltsrecht es sei denn, es wird eingeschränkt durch spezielle Durchführungsvorschriften.

So muss der EU-Bürger, die EU-Bürgerin, der oder die nach Österreich migriert, nach drei Monaten Aufenthalt eine Anmeldebescheinigung beantragen. Diese muss nicht ausgestellt werden zum Beispiel dann, wenn die beantragende Person eine «Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit» darstelle. Man stelle sich vor: Artikel 18 EVG als Knetmasse des (im schlechtesten Falle «freiheitlichen») Beamten X oder des Richters Y, der aufgrund seines Anti-Roma-Ressentiments eine «negative Zukunfsprognose» für einen konkreten Bewerber annimmt.

Auch wenn es den Behörden nicht gelingt, einen Zuwanderer als gefährlich einzustufen, und selbst wenn der Zuwanderer im Aufnahmeland noch nie straffällig wurde, kann er von Bewegungsfreiheit in der «Sozialunion» oft nur träumen. Die BürgerInnen aus den neuen osteuropäischen EU-Staaten bedürfen einer Beschäftigungsbewilligung nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz. Dieses wird bekanntlich sehr restriktiv gehandhabt.

Die «Osteuropäergruft» solange es kalt ist

Nach drei Monaten ohne offizielle Arbeit müssen UnionsbürgerInnen einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz nachweisen und bescheinigen, dass sie über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, um in Österreich ihren Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe bestreiten zu können. Ist das nicht möglich, droht Abschub. EU-AusländerInnen in Österreich haben keinen gesetzlichen Anspruch auf Sozialhilfe. Kurzfristige Aushilfen sind möglich; der Ermessenspielraum ist breit. Eine eventuelle Sozialhilfebezugsberechtigung im Heimatland darf nicht in ein anderes EU-Land mitgenommen werden. Nur wenn sich der Aufenthalt des Unionsbürgers «verfestigt» hat, d. h. nach fünfjährigem «rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt» in Österreich gibts heimische Sozialhilfebezugsberechtigung.

Die meisten OsteuropäerInnen, die aus ihrer tatsächlichen «no future»-Situation in ihrer Heimat fliehend nach Wien kommen, um mittels Bettelns, Straßenzeitungsverkaufs oder unangemeldeten Gelegenheitsjobs zu überleben, erfüllen dieses Kriterium nicht. Darum sind sie auch aus dem System der Wiener Wohnungs- und Arbeitslosenhilfe ausgeschlossen. Selbst die «Gruft, die als niederschwelligste Anlaufstation der Elenden gilt, hat Hilfesuchende aus Osteuropa wegzuweisen.

Dass in diesem Winter einige größere Wiener Medien den Ausschluss armer EU-AusländerInnen aus dem Konstrukt der Sozialunion thematisierten, ist eher den «AudimaxistInnen» als einem ungewöhnlichen Schub der sozialen Verantwortung des Journalismus zu verdanken. Ende Dezember des vergangen Jahres, als der «Aufstand» der Studierenden seinen Höhepunkt überschritten hatte und der Rektor der Wiener Universität das zwei Monate lang besetzte Audimax räumen ließ, mangelte es nicht an Seitenhieben der Massenmedien: Statt rebellischen StudentInnen habe die Polizei größtenteils Obdachlose angetroffen. Was als Verspottung der «Uni brennt»-Bewegung gemeint war, wurde vom Augustin als Kompliment an die BesetzerInnen interpretiert. Das Audimax war ein für in- und ausländische Obdachlose attraktiver Freiraum geworden, weil die Studierenden sich weigerten, die soziale Spaltung «draußen in der Stadt» in die Uni hereinzuholen.

Mehr noch: Die Audimax-BesetzerInnen erreichten durch eine überlegte Öffentlichkeitsarbeit, dass die Situation der verarmten EU-AusländerInnen erstmals breit thematisiert wurde. Die Mehrzahl der mehr als 50 Obdachlosen, die zuletzt im Hauptgebäude der Wiener Uni, zumeist in den hinteren Reihen des größten Hörsaals übernachteten, kamen aus osteuropäischen Ländern. Sie waren Luft aus der Perspektive des offiziellen Sozialapparats. Die Caritas erklärte sich nun bereit, eine zweite «Gruft» diesmal für ausländische Obdachlose einzurichten. Sie befindet sich im 17. Wiener Gemeindebezirk.

Die Räumung des Audimax durch die Polizei bedeutete das Ende der humansten Ecke der Stadt, aus der Sicht der Habenichtse. Nur für einen Teil der vertriebenen Obdachlosen konnte die «zweite Gruft» einen Schlafplatzersatz bieten. Das Angebot gilt außerdem nur bis Ende März, danach sei die Situation durch das warme Wetter ohnehin entschärft. Zum Zeitpunkt der Augustin-Anfrage hatten 17 Ex-Audimaxler das Angebot im fernen 17. Bezirk angenommen. Die Mehrheit der Obdachlosen aus dem Audimax gingen, woher sie gekommen waren: in eine unsichtbare Welt, die für sie in die Hölle 1 (osteuropäische Länder mit hoher Arbeitslosenrate, vor allem unter den Roma, verbunden mit radikalem Antizigansmus) und Hölle 2 geteilt ist. Hölle 2 ist eine reiche Stadt in einem reichen Land, in dem Politiker Wahlen gewinnen, wenn sie ein generelles Bettelverbot ankündigen.