Die Stadt den Leutentun & lassen

Wohnen und Leben für alle in Warschau

Miasto dla ludzi – die Stadt den Leuten, steht an einer Feuermauer.  Die Mauer schließt den ­Innenhof eines besetzten Gebäudes im Zentrum ­Warschaus ab. Über die Wohn- und Raumpolitik in der polnischen Hauptstadt, die durchaus auch ­Fragen für andere ­Städte aufwirft, berichtet Lisa Puchner (Text und Fotos).

Bildunterschrift: Miasto dla ludzi (die Stadt den Leuten) ist im Innenhof eines besetzten Gebäudes im Zentrum Warschaus zu lesen

Mitte Polen, Mitte Warschau. Der erste Anblick, der sich auftut, nachdem der Hauptbahnhof verlassen ist: eine riesige – sowohl in Höhe als auch Fläche zum Beeindrucken erbaute – Pracht-Architektur, der Palast für Kultur und Wissenschaft. Fertig errichtet 1955 als «Geschenk» Stalins an das polnische Volk, war und ist der Kulturpalast umstrittenes Symbol für Moskaus Macht über Polen während der sowjetischen Zeit von 1945 bis 1989. Gegenüber des Palastes eine zwar (noch) nicht geschlossene, aber ebenfalls beeindruckende Front aus weiteren Wolkenkratzern: Hotel-, Shopping-, Büro- und Wohnkomplexe, ein «Marriot», ein «Intercontinental», ein «Libeskind». Erbaut seit den 90ern und dem Übergang zu kapitalistischer Marktwirtschaft, galt und gilt es die Dominanz des Kulturpalastes in der Warschauer Skyline als Relikt des Realsozialismus zu brechen.

Unerfüllte Erwartungen.

So absurd und imponierend diese Skyline der polnischen Hauptstadt ist, so bezeichnend ist sie für die Geschichte und Entwicklung Warschaus. Vor dem Zweiten Weltkrieg relativ dicht bebaut, war Warschau 1945 zu 85 Prozent zerstört. Vor allem nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 zerstörten die Nazis systematisch weiter, was von der Stadt noch übrig war. Nach Ende des Krieges wurde Warschau unter sowjetischer «Bevormundung» mittels sozialistischer Städteplanung wiederaufgebaut. Neben repräsentativen Bauten wie dem Kulturpalast und monumentalen Paradeplätzen und Boulevards entstanden für die Bevölkerung riesige Wohnanlagen sowie große Frei- und Parkflächen. Seit der Dritten Polnischen Republik 1989 änderte sich wiederum das Gesicht der Stadt. Büro-, Einkaufs- und Wohnanlagen setzten sich auf freie oder bebaute Flächen; neben lokalen Anbieter_innen und Geschäften zogen nach und nach Starbucks, Caffè Nero, McDonald’s usw. in das Stadtbild ein. Schnell wurde klar, dass sich die Erwartungen an ein demokratischeres System nach 40 Jahren sowjetischer Kontrolle nicht für alle erfüllen: «Statt der ersehnten Freiheit, die einen gerechten Lebensstandard bringen sollte, bekam man riesige Einkaufszentren, MTV und ein hinterhältiges Ding namens Pauschalkredit», schreibt der polnisch-österreichische Schriftsteller Radek Knapp. Der Übergang zur Marktwirtschaft betraf in der Stadt vor allem die Eigentumsverhältnisse und somit die gesamte Wohn- und Raumpolitik – ein Prozess, der anhält und sich auch in Form von Wohnraumkämpfen im Zuge von Privatisierungen ausdrückt. Während genossenschaftliche Wohnbaugesellschaften weiterhin einen großen Teil der Wohnungsversorgung in Warschau stellen, schrumpfte das öffentliche Wohnangebot von 45 auf 16 Prozent, wohingegen selbstgenutztes Wohneigentum von nur 8 Prozent Ende der 80er Jahre auf 38 Prozent im Jahr 2007 wuchs. Diese Privatisierungen und Folgen wie Mieterhöhung oder Neubau gehen dabei oft über den legalen Rahmen hinaus.

Rauswurf trotz Mietvertrag.

Etwas nördlich des Kulturpalastes hat er zehn Jahre in seiner Wohnung gewohnt. Bis der Besitzer plötzlich neue Pläne für das Gebäude hatte und ihn trotz gültigen Mietvertrags aus seiner Wohnung warf. Zuvor rief er aufgrund von Aggressionen und Handgreiflichkeiten seitens des Hauseigentümers mehrmals die Polizei um Schutz an. Die Beamt_innen griffen nicht ein, schließlich kam es zur gewaltsamen Räumung. Jetzt suche er hier beim Kollektiv Syrena Unterstützung, erklärt der ältere Herr mit blauen Flecken im Gesicht an einem der Tische im Cafe Kryzyz. Inmitten von kommerziellen Angeboten, hippen Restaurants und touristischen ­­

T(r)ankstationen bietet das Cafe Kryzyz eine Alternative für Warschauer_innen im Zentrum, damit der Stadtkern nicht nur als Raum für kauf- und konsumstarke Menschen dient. Es gehört zu einem seit sechs Jahren vom Kollektiv Syrena besetzten Gebäude. Von hier aus kämpft die autonome Gruppe gegen Entmietungen und für das Recht auf Wohnen. Denn die Geschichte des älteren Herrn ist kein Einzelfall. Syrena und die Besetzung des Hauses entstanden schließlich auch als Reaktion auf den Mord an der Mietaktivistin Jolanta Brzeska. Als letzte und widerständige Mieterin in einem privatisierten Gebäude und Gründerin der Warschauer Mieter_innenbewegung wurde die 64-Jährige 2011 verbrannt im Wald bei Warschau gefunden. Von offizieller Seite gibt es bis heute keinen Willen an einer Aufklärung.

Eigentum und Öffentlichkeit.

Undurchsichtige, oft illegale Entmietungen, intransparente Privatisierungen, Ignorierung von Mietrechten seitens Eigentümer_innen, Behörden und Polizei gehören zu Warschaus Alltag. Vor allem durch die Reprivatisierung zuvor öffentlicher Wohnbestände geraten viele Mieter_innen unter Druck. Nachdem fast das gesamte Grund- und Hauseigentum zu Sowjetzeiten öffentliches Gut war, geht es seit den 90er Jahren um die angebliche Wiederherstellung der Eigentumsverhältnisse «vor» der sowjetischen Zeit. In Wirklichkeit hat sich hieraus ein gewaltiges Geschäft ohne rechtliche Legitimation entwickelt, bei dem Wirtschaftsakteur_innen oft massenhaft Ansprüche auf Grund aufkaufen. Obwohl zirka eine Viertelmillion Menschen in Warschau von Verdrängungsprozessen betroffen sind, regt sich erst seit wenigen Jahren Widerstand, größere gesellschaftliche Solidarität bleibt weitgehend aus. Tatsächlich sei jedoch das Phänomen besetzter Häuser in Warschau viel verbreiteter, als es scheint, meint ein Syrena-Aktivist. Dabei handle es sich um rein ökonomische Besetzungen; die Mieter_innen können ihre Mieten einfach nicht mehr zahlen, bleiben trotzdem in ihren Wohnungen oder schaffen die Rückkehr in die Häuser nach deren Räumung.

Holzhütten in teurer Gegend.

Von Räumung, Besetzung oder Privatisierung ist in der Jazdów-Siedlung mit ihren finnischen Holzhütten derzeit keine Rede. Umgeben von Botschaften, dem Parlament und dem Park Ujazdowski befindet sich die Siedlung auf einem der teuersten Gründe in Warschau. Aufgestellt 1945 als temporäre Unterkünfte für Architekt_innen und Ingenieur_innen, die sich am Wiederaufbau Warschaus beteiligten, wurde auf die Holzhütten quasi vergessen. Auch gab es trotz des massiven Wohnbaus weiterhin Bedarf an billigem Wohnraum, und die Hütten wurden Leuten mit niedrigem Einkommen zur Verfügung gestellt. Von den ehemals 90 Hütten stehen heute noch 27, die restlichen verfielen oder mussten Botschaften und Boulevards weichen. Schließlich gab es 2011 Bestrebungen der Stadt, die Siedlung abzureißen und das Areal zu verkaufen. «Der damalige Vorsteher von Warschaus Innenbezirk hatte diese neoliberale Vorstellung von Stadt. Und in der waren Holzhütten im Stadtzentrum ein No-Go – das Zentrum müsse repräsentativ und teuer sein. Dieser Narrativ verärgerte viele Leute, wir haben Beton und Hochhäuser überall in Warschau, alles wird zu neuen Appartementblocks und Einkaufszentren umgebaut. So gab es großen Rückhalt, diesen Ort zu verteidigen. Das wäre jedoch nie möglich gewesen ohne Leute wie Andrzej und andere hier Lebende, die gegen die Attacken und Erpressungen durch imaginäre Schulden von Seiten der städtisch Verantwortlichen widerständig blieben», meint Wojtek Matejko. Er ist wie Andrzej Górz in der Open-Jazdów-Partnerschaft aktiv, die sich zusammenschloss, um als gemeinsame Kraft die Siedlung zu bewahren. Die zentrale Idee war, Jazdów als öffentlichen Raum mit unterschiedlichen Funktionen wahrzunehmen: Wohn-, Grün-, Arbeits- und Veranstaltungsraum. Hierzu wurden NGOs und informellen Gruppen unbewohnte Hütten zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Deren Aktivitäten in der Siedlung müssen nichtkommerziell und für alle zugänglich sein. Da der Grund letztlich der Stadt gehört und mit seinem Standort ein massives Finanzpotenzial darstellt, gilt es weiterhin Überzeugungsarbeit zu leisten, dass Jazdów für die Warschauer_innen viel wertvoller ist als der Verkauf des Areals an die Höchstbietenden oder die Kommerzialisierung und Semi-Privatisierung der Siedlung in eine weitere Café-, Galerie- und Touri-Gegend, erklärt Andrzej Górz. «Es geht um Identität, jede Stadt fängt ja an, gleich auszuschauen. Und Orte wie dieser lassen dich nachdenken, wie so ein autonomer Raum im Stadtzentrum überhaupt möglich ist und was die Geschichte deiner Stadt ist. Das wäre schon Grund genug, warum die Siedlung bleiben muss. Aber es geht auch darum aufzuzeigen, wie Stadtentwicklung anders ablaufen kann: eine neue Art öffentlichen Raum zu verwalten, unter Einbindung aktiver Stadtbewohner_innen und zivilgesellschaftlicher Akteur_innen, fokussiert auf lokale Agenden und die Interessen der in dieser Stadt lebenden Menschen.»

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