Die Stadt der 100-prozentigen Töchtertun & lassen

«Obdach Wien», FSW, LGM-GmbH …

In Favoriten steht ein Arbeiterheim. Wie es zum Hotel und dann zur Flüchtlingsunterkunft wurde, was Victor Adler dazu gesagt hätte und wieso die Partei mit ihren Besitzverhältnissen hadert, hat Robert Sommer herausgefunden.

Illustration: Much

Rund 130 Flüchtlinge übersiedelten aus einem Pavillon des ehemaligen Lainzer Spitals in die Laxenburger Straße 8–10. René Zehner von «Obdach Wien», dem Betreiber der von einem Arbeiterheim zu einem Kommerzhotel erniedrigten und in der Folge zu einem Flüchtlingsheim avancierten Einrichtung, hätte gerne, dass wir seine Interpretation teilen: Die Bewohnerschaft des ehemaligen Vorzeige-Proletarier_innenzentrums sei absolut «widmungsgemäß». Vielleicht wunderte sich Herr Zehner (er kommt aus dem Zwanzigsten) ein wenig, dass wir nicht widersprachen. Doch Widerspruch wäre unangebracht, hatte doch Victor Adler bei der Eröffnungsrede am 8. September 1902 versprochen, dieses Zentrum würde jenen dienen, «die in den elendsten Schlupfwinkeln hausten – verfolgt, gehetzt, verachtet, verhöhnt». So ließe sich auch die Realität der Refugees aus Syrien, Afghanistan und vielen anderen Staaten beschreiben.

Ein Geschenk an die Prolos.

Das lange vor dem Großexperiment des Roten Wien fertiggestellte Favoritner Arbeiterheim war genau genommen kein Geschenk der großen Arbeiterpartei an die Proletinnen und Proleten Wiens, sondern umgekehrt eine Herausforderung der Partei durch ihre Basis. Die Werktätigen des 10. Bezirks, egal ob sie wienerisch, steirisch, italienisch, tschechisch oder jiddisch sprachen, verstanden damals nicht, warum ihre Führung diesen offensiven Wunsch nach einem Ort der Selbstverwirklichung und der Selbstverständigung zunächst ignorierte.

Es war Victor Adler, der quasi die Ehre der SP-Spitze rettete, indem er beim «Klassenfeind» anklopfte, dem Besitzer der Ottakringer Brauerei, der den Arbeiterheim-Heroes einen Kredit gab. Auf der ganzen Welt gab’s kaum eine modernere Hochburg der proletarischen Kultur, und zwar auch deshalb, weil nirgendwo ein empathischerer Intellektueller an die Seite der Arbeiterschaft rückte. Die Rede ist von Hubert Gessner, der Architekt nicht nur des Arbeiterheimes, sondern auch des Vorwärts-Gebäudes und vieler roter Gemeindebauten wurde. Sein auffälliger Jugendstil-Komplex wurde bald zum Kampfplatz, und zwar noch im Jahr der Eröffnung. An einem Novembertag des Jahres 1902 versammelten sich hier hunderte protestierende Arbeiter_innen. Durch einen Wahlschwindel hatte ihr Idol Victor Adler sein Favoritner Mandat verloren. Polizei drang erstmals ins Arbeiterheim ein; sie gebrauchte gegen die Wehrlosen blanke Säbel. 15 schwerverletzte Arbeiter gab es an diesem Tag der blutigen Taufe des Hauses.

Autolärm im Paradies.

Abgesehen von dieser Grenzüberschreitung der Staatsgewalt musste der Alltag im Arbeiterheim unter den Benützer_innen das Gefühl entstehen lassen, vorzeitig in der eigenen Utopie gelandet zu sein. Das proletarische Zentrum verfügte über einen großen Theatersaal mit 1200 Sitzplätzen, fünf kleinere Säle, eine große Zentralbibliothek, ein Kinderfreunde-Lokal, eine große Filiale der Konsumgenossenschaft und ab 1912 ein großes Kino. Den Himmel auf Erden konnten sich damals klassenbewusste Arbeiter_innen nicht viel anders vorgestellt haben. Nur die Parteitage der immer mehr nach rechts driftenden Partei, die hier laufend abgehalten wurden, glichen mehr dem Fegefeuer als dem Himmel.

Der Himmel war plötzlich wegen Umbau geschlossen. Die Austrofaschisten, die Nazi, die sowjetische Verwaltung und schließlich sogar die Sozialdemokratische Partei selber zeichneten für die Veruntreuung der Idee Gessners verantwortlich. Letztere war für das in die Hosen gegangene Konzept verantwortlich, durch die Teilnutzung des Arbeiterheims als Hotel ausreichend finanzielle Mittel für die Sanierung des inzwischen denkmalgeschützten Objektes zu lukrieren. Ein solches Vorhaben musste scheitern: Die Gäste des «Hotels in Zentrumsnähe», wie auf Prospekten zu lesen war, bemerkten, dass e i n e Sache noch näher lag: die tosende Autoschlange der Laxenburger Straße. Das stand nicht im Prospekt. Am Hotelwesen konnte Gessners Bau nicht genesen.

Thatcherismus auf Wienerisch.

Die Flüchtlinge sind da – nun erwartet «Obdach Wien» weiteren Zuzug. Im Detail sind folgende Nutzungen geplant: ein Winternotquartier für Frauen und Familien, ein ganzjähriges Frauennotquartier und ein niederschwelliges «Chancenhaus» für Familien. Außerdem stehen großzügig Flächen für das Bike Kitchen Project bereit – eine von Flüchtlingen betriebene Werkstätte für Fahrradreparatur.

Die erwähnte gemeinnützige Gesellschaft «Obdach Wien» ist eine Auslagerung der Agenden der Wohnungslosen- und Flüchtlingshilfe aus dem «Fonds Soziales Wien», der seinerseits eine Auslagerung aus dem Sozialressort der Wiener Stadtverwaltung ist. Eine weitere Auslagerung aus dem FSW ist die LGM-GmbH.; dieses Kürzel steht für «Liegenschaften und Gebäude-Management». Obdach und LGM sind hundertprozentige Töchter des FSW, der wieder eine hundertprozentige Tochter der Stadt Wien ist. Raten Sie: Wer ist Nutzer, wer ist Mieter, wer ist Eigentümer des ehemaligen Arbeiterheims? Und cui bono, wenn ausgelagerte Unternehmen von ausgelagerten Unternehmen von ausgelagerten Unternehmen im sozialen Feld agieren? Wie nennt man die Entwertung des Stadtbeamtentums zugunsten der neuen Manager? (richtige Antwort: Thatcherismus). Vielleicht sollten wir einfach die Recherche über die Strategie des Auslagerns aus unserer journalistischen Praxis auslagern – aber das ist eine andere Geschichte …

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