Die Stadtstraße und der Standortwettbewerbtun & lassen

Baustellenbesetzung Lobau

Lobau/Donaustadt. «Wien wächst» ist das entwicklungspolitische Mantra der Stadtregierung, die den Bau von Stadtstraße
und Co. verbissen verteidigt. Doch mehr Straßen bedeuten mehr Verkehr, mehr CO2-Ausstoß – und mehr Protest.

Text: Christian Bunke
Fotos: Jana Madzigon

Warum eigentlich eine neue Autobahn, die mitten «durch das Kinderzimmer» naheliegender Wohngegenden führen wird, wie es die Bürger_inneninitiative Hirschstetten Retten so passend formuliert? Warum ein neuer Tunnel mitten durch den Nationalpark Donauauen, ebenfalls samt angeschlossener Autobahn? Wieso ein Budget von 460 Millionen Euro allein für die sogenannte «Stadtstraße», die laut einer Expert_innen-Studie der TU-Wien rund um die Stadtplanerin Barbara Laa mitnichten die – von allen SPÖ-Politiker_innen von Bürgermeister Ludwig abwärts bis zum Donaustädter Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy – versprochene Verkehrsentlastung, sondern vielmehr eine Zunahme des motorisierten Individualverkehrs bringen wird? Warum der erbitterte Widerstand des Landes Wien gegen die von Umweltministerin Gewessler in Auftrag gegebene Evaluierung großer Autobahnprojekte, und das mitten in der hereinrauschenden Klimakrise? Und wie ist es möglich, dass Bürgermeister Ludwig protestierende Kinder und Jugendliche in Interviews als von den Grünen manipulierte Objekte, nicht als politisch handelnde Subjekte darstellt?

Durch die Luft und die Lobau.

Solche Fragen zu stellen heißt, die wirtschaftspolitische Strategie der Stadt Wien zu sezieren. Es heißt, den Mythos zu zerstören, dass die Hauptmotivation der Wiener Stadtpolitik in der Verteidigung und Förderung lohnabhängiger Menschen liegt. Ein Mythos, der von den Wiener Regierenden in der Auseinandersetzung rund um die Stadtstraßen-Autobahn kräftig bedient wird. So trommelte Planungsstadträtin Ulli Sima im Juli die Chefs zahlreicher Wohnbaugenossenschaften zu einer Pressekonferenz zusammen, um der Donaustadt den Verlust von 60.000 geförderten Wohnungen zu prognostizieren, sollte die Stadtstraße nicht gebaut werden. Bei einem Baustopp drohe ein Verlust der Rechtssicherheit, da die neue Straße durch die Umweltverträglichkeitsprüfung verbindlich vorgeschrieben sei. Außerdem stünden «zigtausende» Arbeitsplätze auf dem Spiel. Pikant daran ist, dass es Sima selbst war, die den Bau der Stadtstraße für die Entwicklung der Seestadt Aspern zwingend vorgeschrieben hatte. Der angebliche juristische Sachzwang für den Bau der Straße ist politisch begründet. Er könnte jederzeit politisch zurückgenommen werden.
Doch Wien steht unter Druck, die Stadt befindet sich in einem härter werdenden Standortwettbewerb europäischer Großstädte. Symbolisch verdeutlicht sich das in dem Verlust des über Jahre hinweg abgefeierten Status als «lebenswerteste Stadt der Welt». Seit heuer befindet sich die Stadt in der Mercer Studie nur mehr auf Platz zwei. Ein echtes Drama für eine Stadt, die entgegen allen abstrakten Bekenntnissen zum Klimaschutz auf den globalen Massentourismus einkommensstarker Bevölkerungsgruppen sowie den Ausbau ihrer Schnittstellenfunktion im Netz globaler Lieferketten setzt.
Entsprechendes wird etwa in einer «Zukunftsvereinbarung» aus dem Jahr 2018 zwischen der Wiener Stadtregierung und der Wirtschaftskammer Wien festgehalten. Unter dem Zwischentitel Drehkreuz Wien heißt es da unter anderem: «Ausgezeichnete Infrastruktur ist ein wesentliches Standortasset – daran hängen Arbeitsplätze und Betriebsansiedlungen.» Wesentlich sei daher «der notwendige Lückenschluss im Nordosten Wiens mit Donauquerung und Stadtstraße genauso wie der Ausbau des Wiener Flughafens». Gute Erreichbarkeit sei eine «unabdingbare Notwendigkeit sowohl für den Wirtschafts- als auch für den Tourismusstandort Wien. Schon heute kommen etwa 76 Prozent der Kongressbesucher_innen per Flugzeug. Wiens nachhaltiger Erfolg hängt also auch sehr stark von der Erreichbarkeit aus der Luft ab.»

Zukunft heißt Wettbewerb.

Auffällig ist bei alldem die enge Verzahnung mit angrenzenden Bundesländern, vor allem mit Niederösterreich, aber auch dem Burgenland. Das ist kein Zufall. Wien strebt gemeinsam mit Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer die Schaffung einer bundesländerübergreifenden Metropolenregion an, deren Rückgrat durch verschiedene Großprojekte wie die Stadtstraße oder die dritte Piste am Flughafen Schwechat geschaffen werden soll. In der Zukunftsvereinbarung heißt es dazu hoffnungsfroh: «Wien wächst und ist so stark wie nie mit seinem Umland vernetzt. (…) Für die Ostregion liegt in dieser Vernetzung die große Chance, sich im internationalen Wettbewerb mit gemeinsamen Alleinstellungsmerkmalen und einer weiteren Verbesserung der Standortbedingungen zukunftsorientiert zu profilieren.»
Dafür ist eine ideologische Zurichtung politischer Gremien bis in die unterste Bezirksebene nötig. So enthält die Zukunftsvereinbarung Vorschläge für «Verfahrensvereinfachung und Deregulierung». Ein «Arbeitskreis Unternehmensfreundliche Stadtverwaltung» wurde gegründet. Stadt Wien und Wirtschaftskammer Wien wirken unter dem Motto «Wirtschaft im Bezirk willkommen!» auf die Bezirksbehörden und Bezirksvertretungen ein.
Die strategische Bedeutung des Ausbaus unterschiedlichster Verkehrsachsen für die Stadt Wien wird auch im Wiener Standortabkommen 2018 zwischen der Stadt und der Wiener Industriellenvereinigung unterstrichen. Darin wird «der Neu- und Ausbau von Straßenverbindungen auf Basis des auf sämtliche Verkehrsträger ausgerichteten ‹Fachkonzept Mobilität›» gefordert. Wien profitiere «enorm von seiner geografischen Lage als Kreuzungspunkt wichtiger europäischer Verkehrsachsen sowohl auf den Bereichen Straße und Schiene als auch in Bezug auf den Flughafen und die Wasserstraße Donau.» Hier gebe es «zusätzliche Potentiale», die es zu nutzen gelte.

Über die Seidenstraße ins Marchfeld.

Das Ziel von Stadtstraße und Co. ist somit explizit nicht die Verkehrsverringerung, sondern die Bindung europäischer Verkehrsströme an den Großraum Wien. Dafür wurde die von Norden nach Süden führende trans­europäische Autobahnroute Ten 26, deren Teil die Lobau-Autobahn einmal sein soll, extra näher als ursprünglich geplant an Wien herangeführt. Dafür ist auch der Bau einer russischen Breitspurbahn in den Großraum Wien geplant. Sie soll Wien an chinesische Lieferketten anbinden und die Stadt mit der sogenannten «neuen Seidenstraße» verbinden. Und deshalb macht Wien Druck für den Bau der sogenannten «Marchfeld-Schnellstraße», welche laut dem Standortabkommen Wirtschaftsräume verbinden soll.
Wo Tunnel gegraben, Straßen errichtet und Häuser in großem Stil gebaut werden, gibt es viel zu verdienen. Vor allem für die großen Konzerne der Baubranche. Auf den von Aktivist_innen besetzten Stadtstraße-Baustellen in Hirschstetten findet sich zum Beispiel ein Bagger der Porr Bau GmbH, einem riesigen, international tätigen Baukonzern. In der Seestadt Aspern ist die Porr schon seit Jahren aktiv. So heißt es in einem Artikel des Firmenjournals World of PORR aus dem Jahr 2014: «Mit einem Baustellenpersonal von insgesamt ca. 1.000 Personen wurden bis Anfang März 2014 ca. 150.000 m3 Beton verbaut und ca. 120.000 m3 Aushubmaterial bewegt. Die Anbindung an die U2 wurde im Oktober 2013 eröffnet. In den weiteren Bauphasen sollen eine leistungsfähige Stadtstraße, eine Verbindung zur A23 sowie ein Bahnhof geschaffen werden.»
Das Engagement scheint sich zu lohnen. So bilanziert die Porr über die ersten sechs Monate des Jahres 2021: «Der Auftragsbestand mit EUR 7.848 Mio. ist so hoch wie nie zuvor. Die Produktionsleistung erreichte mit EUR 2.496 Mio. einen Anstieg von 9,8 %.» Dies reflektiere die angestiegene Auftragslage, so die Porr: «Der Heimmarkt Österreich wies erneut den größten Anteil von 46,5 % aus.» Das heißt übersetzt aber auch: Gibt es keine neuen Tunnel, Autobahnen oder Schienentrassen, ist es mit dem schönen Profit schnell wieder vorbei. Immer schneller, höher und weiter zu bauen, scheint alternativlos. Die Baustellenbesetzungen der letzten Wochen streuen Sand ins Getriebe dieser Logik.