Die stillen Hilferufe der Gräbervorstadt

Kein Archiv erzählt die wechselhafte jüdische Geschichte Wiens besser als die vier jüdischen Friedhöfe der Stadt. Tim Corbett hat diese Geschichte in einem 1.041 Seiten starken Buch über zehn Jahre lang aufgeschrieben.
TEXT UND FOTOS: FLORIAN MÜLLER

Der Tag empfängt uns mit Novemberwetter im Februar, als wir uns am Tor 1 des Wiener Zentralfriedhofs treffen. Covid-konform findet das Interview für den Augustin als Spaziergang statt. Und kaum setzen wir uns in Bewegung, beginnen die Grabsteine, ja sogar der Weg und die Toten dank der Recherche des jungen Historikers mit uns zu sprechen. Unmittelbar nach den ersten Schritten treffen wir auf die Gräber von Gerhard Bronner, Friedrich Torberg und Arthur Schnitzler. Und wir stehen vor den ersten Fragen: Wer wird als Jude bzw. Jüdin und wer wird als Österreicher_in begraben? Und sind nach dem Tod wirklich alle gleich?
Arthur Schnitzler war beides: Er war nicht nur einer der berühmtesten Juden des 20. Jahrhunderts, er war auch einer der berühmtesten Österreicher seiner Zeit. In diesem Fall war sein Grab in der jüdischen Sektion ein Zufall: «Die Kultusgemeinde ist einfach zuerst an die Familie herangetreten und hat ihr ein Ehrengrab angeboten», klärt Tim Corbett auf. So hatte das Angebot der Gemeinde Wien für ein Ehrengrab einen halben Tag später das Nachsehen. Am Wiener Zentralfriedhof befinden sich zwei der insgesamt vier jüdischen Friedhöfe in Wien. Der älteste mit Gräbern bis in die frühe Neuzeit ist in der Seegasse. Der Währinger Friedhof war bis ins 19. Jahrhundert in Betrieb. Die jüdische Abteilung beim Tor 1 beherbergt Gräber bis zum Ersten Weltkrieg, und der neue jüdische Friedhof, der mit dem Tor 4 auch einen eigenen Eingang hat, erzählt die Geschichte von der Zwischenkriegszeit bis heute.

Ehrengräber vs. Armengräber.

Ehrengräber wie jenes von Arthur Schnitzler sind meist gut an den Wegen platziert. Am anderen Ende der Skala finden sich die Armengräber, die von der Israelitischen Kultusgemeinde bezahlt wurden, wenn die Angehörigen kein Geld hatten oder es keine Angehörigen mehr gab. Wer sich als jüdisch definierte, entschieden die Betroffenen bis zur NS-Herrschaft selbst. Ab dann diktierten die Nazis mit ihren «Nürnberger Rassegesetzen», wer aus ihrer Sicht jüdisch war. Unter Protest bestattete die IKG so viele Menschen, für die sie sich nicht zuständig fühlte. Die sogenannte «Frommenabteilung» belegt wiederum, dass selbst nach dem Tod nicht jeder neben jedem liegen wollte.
Auf dem Weg zum jüdischen Soldatenfriedhof kommen wir an einem Grabhäuschen vorbei. Der Rabbiner Samuel Frommer war keine besonders bekannte Persönlichkeit. Sein Grabhäuschen entwickelte sich aber in den 1940er-Jahren unter einer Gruppe von Jugendlichen offensichtlich zu einem Anziehungspunkt. «Gott soll uns helfen und ein Wunder geschehen lassen», schrieben etwa «Poldy» und «Leon» am 7. Juli 1938 auf den Grabstein. «Haus des Todes, Haus des Lebens» nennt Tim Corbett sein Kapitel über die jüdischen Friedhöfe während der Shoah, weil der Friedhof nach der Verbannung jüdischen Lebens aus dem öffentlichen Raum zum Zufluchtsort wurde, aber auch zum Ausgangspunkt von Deportation oder zum Ort des Freitods. Die Erinnerungen des Totengräbers Martin Vogel belegen, dass regelmäßig nackte Leichen aus den Grabhäuschen geborgen wurden. Diese Menschen wurden nach ihrem Suizid noch ihrer Kleider beraubt. So blieb ihre Identität meist im Dunkeln.

Denkmal mit Festungscharakter.

Mit der martialischen Architektur einer Festung erhebt sich schließlich ein Denkmal am Soldatenfriedhof der jüdischen Abteilung beim Tor 1. Eine nicht ungewöhnliche Architektur in einer Zeit, in der selbst Gemeindebauten einen festungsartigen Charakter hatten, meint Tim Corbett. Umso überraschender ist der nahezu pazifistische Spruch im Inneren des Denkmals: «Nicht mehr hebt Volk gegen Volk das Schwert und nicht mehr lernen sie Krieg» (Jesaja 2,4). Nach jahrzehntelangen Planungen wurde das Denkmal am 13. Oktober 1929 bereits unter zunehmender antisemitischer Stimmung eingeweiht. 1999 wurde es um eine Gedenktafel erweitert: «In würdiger Erinnerung an die jüdischen Soldaten der k. u. k. Armee und des Bundesheeres der Ersten Republik, die Opfer der Shoah geworden sind».
Auf der Simmeringer Hauptstraße gut zwei Kilometer stadtauswärts liegt das Tor 4. Beim Betreten des aktiven jüdischen Friedhofs ist für Männer eine Kopfbedeckung erforderlich, was uns bei diesen Temperaturen nicht schwerfällt. Am Platz der noch größer geplanten und dennoch monumentalen Zeremonienhalle aus den 1920er-Jahren ist der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung auch Thema. Ein eigenes Grab beherbergt die während der November-Pogrome geschändeten Tora-Rollen. In den Fenstern der Halle, die in den 1960er-Jahren durch Spenden finanziert wurden, sind die Flammen der sogenannten «Reichskristallnacht» zu sehen. Ein durchaus umstrittenes Denkmal aus dem Jahr 2000 gedenkt jenen Wienerinnen und Wienern, die in Israel gefallen sind. Ein Jahr später wurde ein Gedenkstein für die jüdischen Opfer unter den alliierten Soldaten errichtet.
«Wir stehen hier in der Gruppe 18K. Das ist die Gruppe, die unter Zwang von der Wiener Stadtgemeinde 1941 angelegt wurde für die Beerdigung von sogenannten ‹konfessionslosen Juden› bzw. ‹nichtarischen Christen›», deutet Tim Corbett auf ein eingezäuntes Areal, auf dem ursprünglich 700 Menschen bestattet waren, aber nur noch wenige Grabmäler zu sehen sind. Einer der wenigen erhaltenen Steine ist jener der Widerstandskämpferin Yuana Hilde Ryvarden. Es ist wenig bekannt, dass die Asche von Opfern aus Konzentrationslagern bis 1942 in ihre Heimatorte zurückgeschickt wurde. Die NS-Verwaltung verrechnete perfider Weise bis zu 20 Reichsmark pro Urne an die Kultusgemeinde. Diese Aschen sind hier begraben.

Instandsetzungswut.

Wir gehen vorbei an den Grabhäusern der chassidischen «Wunderrabbiner». Die Grabstätte von Israel Friedmann sieht aus wie ein Zelt, weil sie der ursprünglichen Idee der «ohelim» (hebräisch für Zelte) nachempfunden ist. Im sprichwörtlich letzten Winkel des neuen jüdischen Friedhofs finden wir ein weiteres erschütterndes Zeugnis der Shoah. Wir stehen vor einer Massengrabanlage, in der rund 2.000 Gebeine bestattet sind, die 1941 bei der Aushebung einer Bunkeranlage am Währinger Friedhof exhumiert wurden. Hier ruhen auch die Körper von über 500 jüdisch-ungarischen Zwangsarbeiter_innen, die gegen Ende des Krieges in Wien umgekommen sind. Von der «Instandsetzungswut der Friedhöfe Wien GmbH oder der Kultusgemeinde», wie Tim Corbett sie an anderer Stelle kritisiert, ist hier nicht viel zu bemerken. Die Anlage ist verwittert, zugewachsen, nicht gepflegt.
Das Zitat der Instandsetzungswut bezieht sich auf das Grabmal von Theodor Herzl am Döblinger Friedhof, wo historisch bedeutende Graffitis entfernt wurden. Es braucht die Pflege und Erhaltung dieser steinernen Archive, appelliert Tim Corbett wenig überraschend, aber eben richtig. Als Vorbild nennt er den Friedhof St. Marx. Im Washingtoner Abkommen von 2001 wurde die Erhaltung der jüdischen Friedhöfe in Österreich geregelt. Aber erst neun Jahre später wurde das entsprechende Gesetz verabschiedet. Laut offizieller Website des Nationalfonds wurden in den letzten zehn Jahren 2.392.848,23 Euro auf den beiden jüdischen Teilen des Wiener Zentralfriedhofs investiert, allerdings sehr viel davon in Planungsarbeiten. Hoffentlich wurden bei dieser Planung auch historisch und politisch symbolträchtige Grabstätten berücksichtigt.

Tim Corbett
Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien
Böhlau Verlag 2021
1.041 Seiten
65/80 (PDF/Print) Euro

Radio Augustin sendet am 19. März um 15 Uhr auf Orange 94,0 dazu eine Reportage.