Die Stoiker_innen vom Pamirgebirgevorstadt

Der Traum von Tourismus aus dem Westen bleibt vage

Murghob in Tadschikistan gehörte einst zur Sowjetunion. Heute machen Chinas Einflüsse den 7000-Seelen-Ort zum Ramschladen. Mario Heller (Text und Fotos) suchte diesen von der Regierung vergessenen Flecken auf.

Schwarzes, langes Haar, dazu ein zerzauster Bart und ein Cowboyhut: Bobur könnte den Dreharbeiten eines amerikanischen Westerns aus den Sechzigerjahren entflohen sein. Mit dem Jagdmesser im Schaft an seiner Lederhose wirkt er gar gefährlich. Die Augen in seinem zerfurchten Gesicht aber blicken gutmütig, wachsam. Er steht auf dem Basar seiner Heimatstadt Murghob in Tadschikistan. Ein paar alte Container aus Sowjetzeiten fungieren als Marktstände. Das Metall reflektiert die früh morgendlichen Sonnenstrahlen, über den Dächern der trostlosen Betonhütten ringsherum steigt dichter Rauch auf, es wird mit dürren Ästen geheizt. Ratlos wühlt Bobur in der Auslage eines Händlers. Süßigkeiten, Kopfhörer, Seife – alles «Made in China».

Eigentlich wollte er frisches Obst kaufen, doch das ist Mangelware. Um seine Familie zu versorgen, muss ­Bobur auf chinesische Produkte zurückgreifen, deren Qualität katastrophal ist. «Meine Kinder haben hier keine Perspektive», sagt der 44-Jährige. Der Container-Basar bildet das Zentrum von Murghob, der Kleinstadt mit rund 7000 Einwohner_innen in Berg-Badachschan, einer Region im Südosten Tadschikistans. Sie liegt weit ab vom politischen und wirtschaftlichen Zentrum Duschanbe, der Hauptstadt der zentralasiatischen Republik. Die meisten Bewohner_innen Murghobs leben in großer Armut. Mitten auf dem sogenannten Dach der Welt, dem Pamirgebirge, gelegen, ist die Region ein Paradies für Hochgebirgsfans und Abenteurerinnen. Schweizer Reiseanbieter bewerben es mit seiner Unberührtheit. Darin steckt Potenzial. Doch Bobur glaubt nicht daran. Seiner Meinung nach gibt es hier oben auf 3600 Meter über dem Meer nicht viel: Der Boden ist unfruchtbar, das Klima rau, Strom und Wasser sind Mangelware. «Hier gibt es keine Arbeit.»

Kalt und kaum Niederschläge.

«Nur die wenigsten können sich ein Studium in den großen Städten leisten», sagt er. Viele junge Männer gingen nach Russland und arbeiteten auf dem Bau. «Manche lassen ihre Familien hier und kehren nie wieder zurück.» Bobur schlägt den Weg nach Hause ein. Es ist kalt, wie immer in Murghob. Die Durchschnittstemperatur des Ortes schwankt um die 0 Grad Celsius, im Januar sinkt das Thermometer bis auf minus 20 Grad. Das ganze Jahr über fallen so gut wie keine Niederschläge, Wasser muss aus Brunnen gepumpt werden. Am Stadtrand steht zwar ein altes sowjetisches Wasserkraftwerk, und Einzelne behelfen sich mit Solarzellen, eine flächendeckende Stromversorgung jedoch gibt es nicht. In der Nacht ist es zappenduster. Boburs Haus, ein einfacher Flachbau, liegt nicht weit entfernt. Er wohnt zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern. Es ist seine zweite Ehe. «Meine erste Frau war Russin. Als die Sowjetunion zusammenbrach, nahm sie unsere zwei Kinder und flüchtete nach Russland. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört», erzählt er.

Für Bobur war Auswandern nie eine Option. «Wenn ich Murghob verlasse, werde ich innerhalb weniger Stunden krank. Ich bekomme Kopfschmerzen und fühle mich todunglücklich», sagt er. Bobur ist ethnischer Kirgise, das Volk lebt seit Generationen in dieser Gegend. «Ich bin hier geboren, meine Eltern und mein Bruder sind hier begraben. Ich werde diesen Ort niemals verlassen.» Bobur ist stolz auf seine Heimat. «In Russland hat man zwar einen Job. Aber man wird von der Gesellschaft diskriminiert und arbeitet sich für wenig Geld zu Tode», sagt er. Von Beruf ist er Jäger, hat das Handwerk von seinem Bruder erlernt, bevor dieser starb: «In dieser Gegend wimmelt es von Yaks und seltenen Schafen, welche saftiges Fleisch liefern.» Doch seit Bobur Herzprobleme hat, geht er nur noch dann jagen, wenn sich der Fleischvorrat der Familie dem Ende zuneigt. Geld verdient er als Verkäufer von Telefonkarten im Nachbarort. Die meisten sind gegangen. In der Werkstatt neben seinem Haus steht sein blaulackiertes Motorrad. Es prangen die Schriftzüge «Lone Wolf» und «Big Boss» darauf, CD-Rohlinge zwischen den Speichen glitzern in der Sonne. Die Symbolik der Freiheit. Inmitten dutzender Werkzeuge, Stromkabel und anderem Kleinkram hängen an der Wand ein paar Pin-up-Girls, daneben ein Bild von Bobur und seiner ersten Frau. Das Motorrad läuft seit Monaten nicht mehr. Verschrotten will Bobur es nicht.

Ein strategisch wichtiger Punkt.

Bevor die Russen Mitte des 19. Jahrhunderts in die Region kamen, zogen nur einige kirgisische Nomad_innen umher. Dann kam die Russische Revolution, und kurz danach folgten neue Grenzen: Ab 1924 wurde die Gegend Teil der Tadschikischen SSR. Murghob avancierte wegen seiner Nähe zu China im Osten und Afghanistan im Süden zu einem strategisch wichtigen Punkt. Im Ort waren Soldaten stationiert, Fahrzeuge auf der Durchreise nach Duschanbe oder in das kirgisische Handelszentrum Osch wurden hier gewartet. 

Wegen des lebensfeindlichen Klimas wurde die Bevölkerung besonders stark subventioniert. Strom, Wasser und regelmäßige Essenslieferungen waren staatlich gesichert. Mit dem Ende der Sowjetunion hörte dies alles schlagartig auf. Viele verließen Murghob. Seit der Öffnung der Grenze zu China vor 13 Jahren strömen neue Waren ins Land. Die tadschikische Regierung verpachtet den Chines_innen auch kleinere Landesteile, welche besonders rohstoffreich sind. Die angestammte Bevölkerung befürchtet, dass die Gegend bald ausgeschlachtet wird vom übermächtigen Nachbarn. «Die Regierung scheint uns vergessen zu haben», sagt Bobur. Aus der Ferne lässt sich das Donnern von Motoren vernehmen. Bobur deutet auf die großen Lastwagen mit chinesischen Fähnchen über der Windschutzscheibe, die über den zerschlissenen Asphalt der einzigen Überlandstraße brausen. Er schüttelt resigniert den Kopf. «Seit der Kulma-Pass offen ist, wird Murghob mit chinesischem Müll überschwemmt. Lebensmittel, Pflegeprodukte, elektronische Geräte und Spielzeug», zählt er auf und fügt ärgerlich an: «Ich glaube, dass daher meine Herzprobleme kommen.» Zurück auf dem Basar. Razan, eine Frau mit braungebrannter Haut, rotem Kopftuch und gutmütigen Augen, steht vor ihrem Geschäft. Ihr Container ist prall gefüllt mit Textilien und Krimskrams, draußen stehen einige Holzkisten mit Äpfeln und Birnen, die Bobur vorher übersehen hatte, winzig und bereits ein wenig faul. Razan blättert in einem kleinen Büchlein, welches mit Namen und Zahlen vollgeschrieben ist. Es ist eine Liste der Schulden, die die Bewohner_innen von Murghob bei ihr gemacht haben. «Inzwischen fehlen mir mehrere tausend Dollar. Damit könnte ich einige Jahre überleben», sagt die 40-Jährige und wendet sich wieder einer Socke zu, die sie gerade strickt. «Die Preise für Lebensmittel und Textilien sind stark gesunken in den letzten Jahren. Am Anfang hatte ich eine kleine Kiste mit Waren. Jetzt ist es ein großer Container, der Wert meines Ladens ist jedoch gleich niedrig geblieben», erzählt sie. Die Menschen in Murghob seien arm. «Immerhin sind sie ehrlich, bisher habe ich mein Geld am Ende immer bekommen», fügt sie hinzu. 

Anders als die meisten Menschen in Murghob verlässt Razan den Ort im Winter. Sobald die Temperaturen im Oktober anfangen zu sinken, übersiedelt sie zusammen mit ihrer Mutter in die Stadt Chorugh. Es ist die Hauptstadt der Region Berg-Badachschan mit etwa 30.000 Einwohner_innen, ungefähr fünf Autostunden von Murghob entfernt. «Meine Kinder sind längst erwachsen und haben Häuser in Chorugh», erzählt sie. Am Anfang sträubte sich Razans Mutter noch, ihre Heimat Murghob zu verlassen, doch die extreme Höhe des Ortes und die Kälte setzen ihr zu stark zu. Wegen der enormen Höhe, der schlechten Versorgung und den lebensfeindlichen klimatischen Bedingungen werden die Menschen in Murghob selten älter als 60 Jahre. Das sind zehn Jahre weniger als der Durchschnitt des Landes. «Eigentlich komme ich nur noch wegen der Sehnsucht meiner Mutter hier hoch», sagt Razan mit einem Lächeln und legt den Kopf schief. «Vielleicht können die Touristen den Menschen hier helfen», sagt sie und deutet auf die inzwischen fertiggestrickte Socke. «Es werden immer mehr. Und die Ausländer lieben unsere traditionell hergestellten Produkte.» 

Fast wie Island.

Der Tourismus könnte zur neuen Hoffnung Tadschikistans werden. Ein gutes Beispiel ist das «Hotel ­Pamir», welches sich architektonisch vom Rest der Stadt abhebt. Das Gebäude besitzt eine majestätische Größe, auffällige Glasfronten und eine sauber gestrichene Fassade. Es ist das einzige Hotel weit und breit, abgesehen von einigen Privatunterkünften. ­Tahir führt es seit einigen Jahren. Er ist 26 Jahre alt, leicht pummelig und wirkt auch hinter dem Tresen der Rezeption stets so, als wäre er erst vor wenigen Minuten aufgestanden. Wenn jedoch wie jetzt Gäste das Hotel betreten, kommt Leben in ihn. Umtriebig erklärt er in gutem Englisch die Bedingungen für eine Übernachtung, auch Deutsch wäre ihm geläufig. «Da war zum Beispiel ein verrückter Kerl aus Spanien.» Er ist durch ganz Europa geradelt und fährt nun weiter bis in die Mongolei», erzählt Tahir, nachdem die Gäste auf ihr Zimmer gegangen sind. 20 Dollar kostet der Aufenthalt in einem Mehrbettzimmer, für tadschikische Verhältnisse ein sehr hoher Preis. Tahir findet ihn gerechtfertigt: «Wir können das Hotel nur im Sommer öffnen. Im Winter hat es keine Gäste, und viele Angestellte kehren über die kalten Tage in ihre Heimatorte zurück. Dazu kommen hohe Betriebskosten durch die Generatoren und Lebensmittellieferungen», erklärt er. Wenn es nach ihm gehen würde, könnten die Menschen in Murghob viel mehr aus dem Tourismus machen. «Seit einiger Zeit erleben wir einen enormen Zuwachs an Besuchern aus aller Welt. Ob aus Europa, China oder anderen ehemaligen Sowjetstaaten: Dieser Ort fasziniert die Menschen. Leider gibt es bisher keine starken Reiseanbieter, die sich hier dauerhaft  einrichten möchten.» Tatsächlich verzeichnete Tadschikistan im Jahr 2015 einen Anstieg des Tourismus um 94 Prozent. Nur Paraguay lag noch weiter vorne. Deswegen wird das Land gerne mit Island verglichen: wegen der Vielfalt an malerischen Landschaften und weil es von heißen Quellen nur so wimmelt.

Der Tourismus wäre die Chance für das krisengebeutelte Land. Doch die Regierung des Landes hat dies noch nicht erkannt, meint Tahir. «Präsident Emomalij Rahmon denkt, dass die Touristen nur wegen der Hauptstadt Duschanbe kommen, um den prunkvollen Präsidentenpalast oder den zweithöchsten Fahnenmast der Welt zu betrachten. Er scheint keine Ahnung zu haben, wie wunderschön die Pamirregion ist.» Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden hinter den Hügeln über der Stadt. Zwei Hirtinnen führen eine Herde mit Schafen zurück ins Tal. Innerhalb weniger Minuten legen sich dichte Wolken über Murghob, ein starker Wind kommt auf, leichter Schnee fällt. Auf den Straßen brausen noch einzelne Fahrzeuge vorbei, Menschen gehen zu Fuß nach Hause. Hier und da dient das Display des Mobiltelefons als Taschenlampe. In der Mitte des Ortes steht vergessen eine Statue von Lenin, den Arm weit ausgestreckt. Es hört ihm längst keiner mehr zu. 

 

Mario Heller

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Surprise / INSP.ngo