Die Strasse als Metapher und der Augustin als ihr MediumAllgemein

Achse, Damm, Fahrbahn, Fahrdamm, Fahrspur, Fahrstraße, Fahrstraße, Fahrweg, Fernverkehrsstraße, Hauptstraße, Landstraße, Straßendamm, Allee, Avenue, Boulevard, Gasse, Weg, Durchfahrt, Durchlass, Meerenge, Zubringer, Chaussee, Gasse, Verkehrsweg. Solche Begriffe bietet mir ein Internetservice für deutschen Wortschatz an, wenn ich nach Synonymen für Straße suche. Vielleicht gibt es ein klügeres Synonym-Service im Netz. Eines, das registriert hat, dass Straße als Metapher für marginalisierte soziale Gruppen stehen kann.

Die Obdachlosen zum Beispiel das ist die Straße, obwohl die meisten Individuen dieser Gruppe gar nicht auf den Haupt- und Nebenstraßen schlafen, auch nicht in den Gassen und Gossen, sondern in Waggons, Abbruchhäusern, Parks, auf der Donauinsel, in Armenasylen, in Kellern oder temporär bei Kumpeln.

Und dann steht Straße auch für den öffentlichen Raum. Reclaim the streets, Recht auf die Straße das meint nicht die Haupt- oder Nebenstraße, das meint alles, was nicht privat ist, das meint den urbanen Raum mit all seinen Plätzen, Bahnhofshallen, Passagen und öffentlichen Brachen, das meint auch das flächige Vertikale, das Gesamtgut der Wände der Stadt, eine unerschöpfliche Grundlage für die Graffiti-Kunst. Im Bewusstsein, dass irgendwie ein ebenso überflüssiges wie unentbehrliches Wort ist, kann festgestellt werden, dass die Straße für den Augustin ein irgendwie heiliges Wort ist, denn neben den zuletzt genannten Bedeutungen steht es auch für ein bestimmtes Konzept sozialer Arbeit. Das sich zu den Schulkonzepten der sozialen Arbeit in Widerspruch befindet.

Nicht dass die Sozialarbeit, die sich mit dem neoliberalistischen Sachzwang arrangiert hat, die festgeschriebene Intention hätte, die Verarmten dieser Gesellschaft unsichtbar zu machen aber praktisch wirkt sich ihre Professionalität so aus. Dass Bahnhöfe sandlerfrei geworden sind, dass sich traditionelle Alkoholiker-Treffs in der Stadt aufgelöst haben, dazu haben oft auch SozialarbeiterInnen mitgeholfen. Der Augustin ist wegen seiner offensiven Propagierung des Rechts auf die Straße von VertreterInnen eines anderen Konzepts von sozialer Arbeit angegriffen worden. Die Losung müsse Menschenrecht auf Wohnung, auf ein Dach überm Kopf lauten. Aber wer mithilft, Obdachlose unsichtbar zu machen, d.h. ihre Präsenz im öffentlichen Raum zu minimieren, erleichtert nicht gerade jenes gesellschaftliche Gewahrwerden der Armut, das die Voraussetzung wäre, um das Recht auf Wohnung demokratisch durchzusetzen. Alles im Augustin-Projekt ist auf die Sichtbarkeit der Unsichtbaren, Unerwünschten angelegt, die Existenz des Projekts hängt sogar davon ab. Ohne die mittlerweile zum Teil des Stadtbilds gewordenen 450 Körper der AugustinverkäuferInnen gäbe es nämlich weder die finanzielle Basis noch die nötige Sichtwerbung für ein solches Medium.

Mag die journalistische Genre-Bezeichnung Straßenzeitung, international üblich für Blätter des Typs Augustin, noch so technisch sein (sie kennzeichnet die spezifische Art des Vertriebs): Die Straße steht für eine Vorstellung von öffentlichem Raum, in die die Erfahrung integriert ist, dass dieser Raum ein ständig umkämpfter ist; die Straße steht für die Bereitschaft, ein Subjekt dieses Ringens zu sein; die Straße steht für die Erkenntnis, dass der Trend zur sozialen Säuberung der Kerne so vieler reicher Städte, dessen aktueller Ausdruck die Vorbereitung allgemeiner Bettelverbote ist, den öffentlichen Raum gefährdet.

Poetisch gewendet, steht die Straße aus der Perspektive des Augustin für die Utopie der freien Verfügbarkeit des öffentlichen Raumes für alle bisher unerwünschten sozialen Milieus, für eine Waffengleichheit zwischen den kommerziellen Interessen und den Ansprüchen der unverwertbaren Flanerie in Bezug auf die Benützung des öffentlichen Raumes; prosaisch gewendet steckt im Begriff die Straße die Anerkennung der ernüchternden Tatsache, dass ein marktwirtschaftlich angelegtes Gesellschaftssystem, in dem der Arm-Reich-Gegensatz strukturell ist, eine Klasse der Ausgegrenzten immer wieder reproduziert, dass dieses System die laut Mainstream-Sozialarbeit grundsätzlich Integrierbaren nicht wirklich integrieren will, dass also der öffentliche Raum langfristig als Überlebensraum für Drogenkranke, Alkoholkranke, Exhäftlinge, Papierlose, Müßiggänger und Sonderlinge, langfristig auch als Ort der gleich-gültigen Begegnung zwischen Unauffälligen und Auffälligen bewahrt werden muss.

Zum Schluss noch ein paar Beispiele dafür, mit welchen Methoden der Augustin samt seinen VerkäuferInnen als Teilöffentlichkeit bei der Okkupation des öffentlichen Raumes mitmischen will.

Als dieser Text geschrieben wurde, war die Liberalisierung des Straßenmusik-Reglements in Wien ein Schwerpunkt der Tätigkeit. Zur Zeit des Wiener Kongresses war den ausländischen Delegationen, wie man aus Dokumenten weiß, übereinstimmend aufgefallen, dass in Wien an jeder Ecke gesungen und getanzt wird mehr als in jeder anderen Hauptstadt. Lang ist’s her. Heute gelten in der Musikstadt Wien die StraßenmusikerInnen als Lärmstörung, sogar als besonders lästige; anders ließe sich nicht erklären, warum an manchen der erlaubten Musizierplätze laut magistratischer Straßenmusikverordnung nur bis 18 Uhr musiziert werden darf, während die anderen Typen von Lärm durch andere Verordnungen bis 22 Uhr gestattet sind. Kafkaeske Regeln wie die Vier-Personen-Obergrenze (einerlei, ob es sich um eine Jazzband oder eine A-capella-Gruppe handelt) müssen laut Augustin genauso gestrichen werden wie die Pflicht zur Voranmeldung von Auftritten in der innerstädtischen Fußgängerzone, was viele der durch Europa ziehenden Meister der Straßenmusik von Wien fernhält. Sie ziehen Metropolen vor, die spontane Straßenperformances aushalten.

Offensichtlich erfolgreich agierte der Augustin gegen ein kurioses Instrument zu Wegweisung von unerwünschten Personen aus Shopping-Meilen, nämlich gegen den Missbrauch jenes Paragraphen der Straßenverkehrsordnung, der „Unbegründetes Stehenbleiben auf Gehsteigen verbietet. Der Augustin hatte aufgedeckt, dass die Polizei unter dem Druck einflussreicher Geschäftsleute und hilfreicher PolitikerInnen diesen Paragraphen verwendete, um Säufer, Junkies und Obdachlose aus dem Straßenbild zu entfernen. Sie riskierten 70 Euro Strafe oder 3 Tage Gefängnis. In jüngster Zeit sind keine Amtshandlungen mehr unter diesem Titel gemeldet worden. Aktionistische Initiativen von Augustin-Leuten, die durch demonstrativ unbegründetes Stehen z.B. in der Mariahilferstraße eine Solidarität mit den Betroffenen herstellen sollten, wurden und werden ebenso wenig behördlich angemeldet wie die meisten anderen Aktionen. Das ist nicht als Provokation gemeint, sondern ergibt sich logisch aus dem postulierten demokratischen Recht auf Benützung des öffentlichen Raumes, sofern diese nicht die Freiheit anderer aufhebt.

Der Augustin versucht schließlich, gegen die Bettlerparanoia anzukämpfen und den Sinn der Verschärfungen der Bettelverbote zu hinterfragen. Wieder ein Exkurs in die Geschichte, diesmal weit hinter den Wiener Kongress. Im Mittelalter erbrachte der Stand der Bettler eine unverzichtbare Dienstleistung. Die Folge war eine gesellschaftliche Akzeptanz. Der Bettler verhalf dem reichen Sünder zur Seelenrettung. Er stellte sich quasi dem Reichen zur Verfügung, der bei Bedarf Barmherzigkeit an ihm üben konnte. Deshalb lungerten die BettlerInnen jederzeit griffbereit vor der Kirche herum – in professionell leidender Pose. Die KirchgängerInnen konnten im Vorübergehen gute Taten vollführen. Diese Dienstleistung im ideellen Bereich ist auch heute gefragt. Erfahrene BettlerInnen verstehen es, den PassantInnen ein gutes Gefühl zu geben, ihnen zu helfen, trotz der Krise den Glauben an sich und die Welt nicht zu verlieren. Den öffentlichen Raum für bettelnde Menschen zu sperren, wäre demnach doppelt absurd. Es wäre eine Maßnahme, die die Armen materiell und die Wohlhabenden psychisch ärmer macht. Der öffentliche Raum ist, weil er nicht außerhalb der Gesellschaft platziert ist, per definitionem ein Ort der Auseinandersetzung und der Interaktion und des Gegensatzes und des Dilemmas zwischen Arm und Reich. Aus der Sicht jener nüchternen ZeitgenossInnen, die Gleichheits- und Gerechtigkeits-Utopien christlicher, anarchistischer, sozialistischer oder kommunistischer Provenienz für Utopien im populären Sinn des Wortes halten, muss er das ewig bleiben.

Robert Sommer

Geschrieben für RAUM, Zeitschrift des ÖIR (Österreichisches Institut für Raumplanung)

Links:

Reclaim the streets: http://rts.gn.apc.org/

ÖIR: http://www.oeir.org

Bettlerparanoia: Augustintext Betteldebatte im Rathaus, 205

Straßenmusikverordnung: Augustintext Walther Soyka, 201

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