Die Suche nach Humanitättun & lassen

Augustin-Verkäufer Dave und Pedro sammeln Empfeh­lungsschreiben und engagieren sich ehrenamtlich in Traiskirchen. Die Hoffnung auf humanitäres Bleiberecht besteht noch.

TEXT: Christian Bunke
FOTO: Michael Bigus

Menschen auf ­Durchreise. Man findet viele von ­ihnen entlang der ­U4-Station Hietzing. Und dort ­finden diese Menschen Dave, der da den ­Augustin anbietet – und das immer höflich und professionell. Auch Dave ist – die Leser:innen mögen dieses Bild verzeihen – auf Durchreise. Beziehungsweise ist er hier gestrandet, und das schon vor zwölf Jahren. Das trifft auch auf seinen Kumpel Pedro zu. Der ist, genau wie Dave, ein Teil der «Augustin-Familie», wie beide das immer wieder betonen. Im nahegelegenen Hadikpark erzählen Dave und Pedro bei einem Parkbank-Gespräch ihre Geschichte. Es wird ein Gespräch über unfreiwillige Abreisen, Verfolgung und Flucht. Aber auch über gegenseitige Solidarität und Hilfe.

Biografien der Flucht.

Wo der aus Indien stammende Dave eher melancholisch und nachdenklich wirkt, spricht der Nigerianer Pedro immer mit einem Lächeln in den Augen. Und das auch, wenn er über traumatische Lebenserfahrungen spricht. «Ich bin gebürtiger Muslim, aber später zum Christentum übergetreten. Das hat mich zum Angriffsziel religiöser Fanatiker gemacht», erzählt er. «Ich wurde so oft angegriffen. Man hat wiederholt versucht, mich zu vergiften. Eines Tages kamen sie und wollten mich töten. Ich konnte gerade noch abhauen. Aber meine Mutter haben sie an dem Tag getötet.» ­Pedro flüchtete zunächst in die Türkei und setzte nach Griechenland über. Jetzt ist er in Wien. Wie auch Dave. «Ich habe mich immer für die Armen eingesetzt», erzählt er. «In Indien war ich in einer Partei aktiv, die ebenfalls dieses Ziel verfolgt hat. Es gab aber Gewalt gegen die Unterstützer:innen dieser Partei. Ich hatte Angst um mich und meine Familie. Mein Sohn, mein ­Bruder und ­meine Schwester sind immer noch dort. Ich bin jetzt zwölf Jahre hier in Österreich. Zwölf Jahre, in denen ich vergeblich auf das gute Leben gewartet habe.»
Immer wieder drückt ihn das Heimweh und die Sehnsucht nach den Angehörigen. «Mein Sohn ist jetzt 28 Jahre alt. Wenn ich mit ihm telefoniere, weint er. Er fragt: Papa, wann kommst du zurück? Aber ich kann nicht zurück. Regelmäßig stehen Männer bei meiner Familie vor der Tür und fragen, wo ich bin. Wenn sie könnten, sie würden mich sofort umbringen.» Hier nickt Pedro. Auch er kann nicht zurück in ­seine Heimat. Und das nicht nur aus Angst um sein eigenes Leben, sondern vor allem um das Leben seiner in Nigeria verbliebenen Angehörigen. «Gott hat mir drei Kinder geschenkt. Die sind noch in Nigeria. Ich habe Angst um das Leben meiner Kinder, sollte ich zu ihnen zurückkommen.» In Österreich wirkt das alles weit entfernt. «Ich mag es hier. Es ist friedlich hier. Ich kann meine weißen und nigerianischen Freund:innen treffen.» Aber: «Die Menschen hier in Österreich verstehen die Krise nicht, die Nigeria gerade heimsucht. Wenn mein Handydisplay nicht kaputt wäre» – an dieser Stelle zückt Pedro sein völlig zertrümmertes Smartphone –, «könnte ich dir Videos zeigen. Von Männern, die in Kirchen eindringen und dort mit Maschinengewehren um sich schießen. Selbst Regierungsmitglieder werden angegriffen. Wie sollen sie da Menschen wie mich und meine Angehörigen schützen?»
Die Rückkehr in die Heimat ist versperrt. Es bleibt die Herausforderung, hier in Österreich eine Existenz aufzubauen. «Ich war zunächst Zeitungszusteller. Das ist ein sehr anstrengender, sehr stressiger Beruf, für viel zu wenig Geld», sagt Dave, der eigentlich ein technischer Ingenieur mit jahrzehntelanger Berufserfahrung ist. In Indien baute und reparierte er ­Klimaanlagen in Privathäusern und Firmengebäuden. Diese Qualifikationen konnte er in Österreich bislang jedoch nicht zum Einsatz bringen. Stattdessen plagen ihn zunehmend gesundheitliche Probleme. Der Alltagsstress bekomme ihm nicht, sagt er: «Ich bin inzwischen sechsmal operiert worden. Ich habe Probleme mit der Schulter, am Hals, mit der Nase. Es fällt mir schwer zu atmen.»

Augustin family and friends.

Pedro war in Nigeria Fleischhauer, hatte dort sein eigenes Geschäft. «Hier in Österreich hatte ich kein Geld und Anfangs auch keine Hilfe von irgendwem. Irgendwann habe ich am Westbahnhof einen Freund kennengelernt. Der hat mich zum ­Augustin gebracht. Dort hat man mir beigebracht, wie das alles funktioniert und was ich beim Zeitungsverkauf beachten muss. Nach einiger Zeit ­kriegte ich meinen eigenen Verkäuferausweis. Jetzt verkaufe ich schon seit acht Jahren den Augustin.» Über die Straßenzeitung und die dazugehörige «Familie» findet Pedro warme Worte: «Es ist eine Organisation, von der ich definitiv wünsche, dass sie noch lange erhalten bleibt. Sie gibt vielen Menschen ein Leben. Und zwar nicht nur den Ausländer:innen, sondern auch den hier geborenen Menschen. Der ­Augustin ist wirklich wie meine Familie. Ich kenne unter den Leuten dort einen Typen, der ist genau wie meine Mutter.» Es war im Augustin-Büro, als Pedro erstmals «meinem Bruder Dave» begegnete. So wie Pedro die Geschichte erzählt, lief die Sache so: «Ich habe Dave dort sitzen gesehen. Dann habe ich Andi, den Sozialarbeiter, gefragt, ob ich Dave mitnehmen kann, um ihn meinen in Wien lebenden Familienmitgliedern vorzustellen. Das habe ich gemacht. Jetzt arbeiten wir beide in Traiskirchen. Aber unbezahlt.»

Ehrenamt fürs Bleiberecht.

Nun ist es an der Zeit für Dave, sein Handy zu zücken. Er zeigt Bilder und Zeitungsausschnitte: Dave beim Gemüseanbau, Dave bei der Sanierung einer karitativen Einrichtung. Während Pedro bei einem Traiskirchner Verein ehrenamtlich Fahrräder repariert, bringt sich Dave beim Garten der Begegnung ein. Dabei handelt es sich um ein laut eigenen Angaben «ökosoziales Integrationsprojekt, in dem Interessierte, Traiskirchener:innen, Schüler:innen, Asylsuchende gemeinsam Obst und Gemüse ökologisch anbauen und verarbeiten». Immerhin: «Sie helfen uns dort wirklich sehr. Und wir kriegen gratis Tomaten», sagt Pedro.
Dave zeigt nun weitere Handybilder. Dieses Mal sind es Empfehlungsschreiben, ausgestellt von den Einrichtungen, bei denen er in den vergangenen Jahren unbezahlt gearbeitet hat. Es wird viel gelobt: Sein Fleiß, seine Bescheidenheit, der Wille, sich der deutschen Sprache zu bemächtigen. Hier habe Dave große Fortschritte gemacht. Es wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass diese Schreiben einer positiven Entscheidung für einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Österreich dienlich seien. Auch Andi Babler, Traiskirchens Bürgermeister, hat einen solchen Brief verfasst. «Es geht hier doch um Menschen, die Schlimmes durchgemacht haben», sagt er auf Nachfrage. «Sie brauchen hier eine dauerhafte Lebensperspek­tive. Da versuchen wir in Traiskirchen zu helfen. Das ist ein Gebot der Humanität.» Eine Humanität, so scheint es nach Durchsicht zahlreicher ähnlich lautender Lobesbriefe, für deren Berechtigung Todesgefahr, Vertreibung und Fluchterfahrung nicht ausreichen. Grundvoraussetzung für humanitäres Bleiberecht laut Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unter anderem «eine besondere Integration».
Es bleibt die Suche nach dem «guten Leben». Von Hoffnung mag insbeson­dere Dave kaum sprechen, sein Leben sei zerstört, sagt er. «Es ist der ­Augustin, der mir Halt gibt. Und die Menschen dort. Wir tauschen uns untereinander aus und helfen einander.» Und ­gegenseitige Hilfe ist bitter nötig, denn verschie­denste Alltagsprobleme können jederzeit um die Ecke kommen. «Einmal stand plötzlich die Polizei vor meiner Tür, weil sie glaubten, bei mir Drogen finden zu können. Meine damalige Vermieterin hat ihnen wohl etwas in diese Richtung erzählt», sagt Pedro. «In solchen Situationen musst du deine ­Rechte kennen. Und da helfen wir einander.»