Die tiefe soziale Kluft in der Demokratietun & lassen

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Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden. Der Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon gründete in Paris ein «Parlament der Unsichtbaren», das dazu dient, all die Geschichten und Lebensbiografien von Menschen zu erzählen, die sonst im Dunkeln geblieben wären: von Jugendlichen, die es schwer haben, von Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor, vom einsamen alten Mann in der Stadt.
«Stellen Sie sich vor, es träte eine neue verfassungsgebende Versammlung zusammen, um über die zukünftige Gestaltung unserer Demokratie zu beraten!» So begann die Einladung zu einem Gedankenexperiment. «Was wäre Ihnen wichtig, welche Fragen müssten aufgeworfen werden?» Ich antwortete: «Die Schönheit der Verfassung zu würdigen, heißt, sie um soziale Menschenrechte zu vervollständigen.» Und: «Wir müssen darauf achten, wie der Alltag ökonomisch Schwächerer und ihre Interessen in Entscheidungsfindungen repräsentiert sind.» Zu Ersterem könnten wir im 100-Jahr-Jubiläum unserer Verfassung den Diskussionen aus dem Österreich-Konvent sowie der Grundrechtecharta der Europäischen Union folgen. Auch im aktuellen Regierungsprogramm steht, dass der Grundrechtekatalog erweitert werden soll.
Die andere Frage betrifft das Ringen um Partizipation und Mit­­be­stimmung aller. Ist Österreich auf dem Weg in die Zweidrittel-Demo­kratie? «Mit meiner Stimme kann ich bei Wahlen die Zukunft Österreichs mitbestimmen» – dem können 50 Prozent des stärksten ökonomischen Drittels zustimmen, aber nur 28 Prozent des schwächsten. Nur die Hälfte des ärmsten Drittels geht wählen, aber 80 Prozent des reichsten. Zum untersten Drittel kommen noch alle dazu, die gar nicht wählen dürfen, hier aber ihren Lebensmittelpunkt haben, hier geboren sind, hier
arbeiten. Die meisten befinden sich auch da im untersten Drittel der Bevölkerung, beschäftigt am Bau, in der Reinigung oder im Handel.
Politische Entscheidungen entsprechen allen voran den Meinungen der einkommensstärkeren Gruppen. Umfassende Studien des Max-Planck-­Instituts und der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass die Entscheidungen des Deutschen Bundestags seit den 1980er-Jahren systematisch zugunsten oberer Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind. Wir haben eine tiefe soziale Kluft in der Demokratie.
Für eine bessere Bürger_innenbeteiligung müssen mit neuen Partizipationsmodellen besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen eingebunden werden. Da braucht es Instrumente und Verfahren, um diese Expertise auch in die politischen Entscheidungsstrukturen einfließen zu lassen: in den Verwaltungsrat des AMS, in Beratungsgremien für Minister_innen, in Strategieforen der Gesundheitsbehörden oder in Programme der Gemeinden. Sie können Einblicke und Lösungen erbringen, an die vorher nicht gedacht wurde. Sie beteiligen Bürgerinnen und Bürger aller Schichten, Einkommen und Herkunft an entscheidenden Fragen des Gemein­wesens: Menschen mit Behinderungen, Armutsbetroffene, Erwerbs­lose, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Eine «Sozialverträglichkeitsprüfung» gesetzlicher Maßnahmen sollte genauso bedacht werden wie Modelle eines «Health Impact Assessment», wie sie Neuseeland praktiziert. Und es würde gerade jetzt in Coronazeiten nicht schaden, den im Regierungsprogramm vermerkten «Unterausschuss Armutsbekämpfung» im Parlament einzusetzen. Dort könnten die Stimmen «von unten» hör- und sichtbar werden. Ein «Parlament der Unsichtbaren».

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