Die sozialen Kategorien und die Selbstdegradierung der Menschen
Und neben Bezeichnungen, die die Betroffenen als Opfer der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausweisen, wie Deklassierte, Unerwünschte oder Überflüssige, gebrauchen die Schreiberlinge des Augustin schließlich auch soziologisch anmutende Kategorien wie Marginalisierte, Ausgegrenzte, Ausgeschlossene oder neuerdings verstärkt Prekariat. JournalistInnen wird man das Jonglieren mit Begriffen, das ihrer Neigung zu abwechslungsreichen Formulierungen entspricht, noch zugestehen. WissenschaftlerInnen aber stehen unter dem intellektuellen Druck, Begriffe zu entwickeln, die einen analytischen Wert haben, die ein gesellschaftliches Phänomen erklären und nicht zusätzlich vernebeln. Oder Begriffe, die auf jede moralische Bewertung verzichten.
Im Englischen gibt es die Wendung „persons of no consequences“: Menschen, auf die es nicht ankommt. Noch so eine journalistische Metapher. Warum enthalten sich so viele JournalistInnen des Begriffs Unterschicht, den sie ihrer eigenen Logik gemäß verwenden müssten, falls sie sich selbst was üblich wäre als Mittelschichtsangehörige sehen? Denn wenn es die Mitte gibt, muss es logischerweise ein Unten und ein Oben geben.
Vereinigung von Wischmopp und Laptop?
In der Wiener Tagung zum Thema Unterschicht, zu der Mitte Jänner das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) einlud, wurde selbst die Rede vom Prekariat, ein im soziologischen Diskurs wie in der Sprache der neuen Linken höchst erfolgreicher Begriff, von den Referenten in Frage gestellt. Diese Kategorie soll, so seine Proponenten, sowohl die Arbeitslosen wie auch die ungeschützt (also prekär) und auch mit unausreichender Bezahlung Arbeitenden umfassen. Sie soll das Heer der minimal bezahlten AkademikerInnen und der PraktikantInnen mit den Putzfrauen ohne Aufenthaltsgenehmigung (zunächst gedanklich) vereinigen und ein mögliches Bündnis von Wischmopp und Laptop anklingen lassen.
Wer die mediale Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen will, muss einen neuen Begriff erfinden. So wurden die Digitale Boheme erfunden oder die Working Poor oder das Prekariat. Einen analytischen Wert haben solche Begriffe kaum, meinte Rolf Lindner von der Berliner Humboldt-Universität. Bei der Tagung blieb das nicht unwidersprochen. Beim Begriff Prekariat handelt es sich inzwischen immerhin auch um eine Selbstzuschreibung etwa von prekär beschäftigten Intellektuellen und KulturarbeiterInnen, von kritischen Neuen Selbständigen; er steht für jene neue soziale Bewegung, die durch den EuroMayDay und andere international koordinierte Aktionsformen sich von den traditionellen Gewerkschaften abgrenzen will, denen Ignoranz gegenüber den Problemen der Arbeitslosen, Teilzeitarbeitenden und Working Poor nachgesagt wird. Insofern ist die Kategorie Prekariat plausibler, als Lindner suggeriert.
Der Absturz von immer mehr durchaus gebildeten Menschen in die Armutsschicht verändert das Bild der an den Rand Gedrängten: Insofern sind neue Begriffe vielleicht doch sinnvoll? IFK-Direktor Helmut Lethen versuchte in seiner Begrüßungsrede dieses Neue am Beispiel der jüngsten Augustin-Ausgabe festzumachen. Wäre es früher denkbar gewesen, dass eine Obdach- und Arbeitslosenzeitung sich mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften beschäftigt? Lethen zitierte aus Magdalena Steiners Comic: Jede menschliche Nase riecht unweigerlich sofort den zarten Hauch von Unabhängigkeit, Gewohnheit, zu befehlen, Gewohnheit, überall das Beste für sich zu wählen, leichter Weltverachtung und ständig bewusster Machtverantwortung, der von einem großen und sicheren Einkommen aufsteigt. Musil beobachtet in seinem Roman die Oberschichtler genauer als die Unterschichtler.
Eine Kategorie wie Unterschicht ist unverzichtbar für den wissenschaftlichen Diskurs, meint Rolf Lindner. Übrigens müsse man auf diesem Begriff allein schon deswegen bestehen, weil der deutsche Vizekanzler und Arbeitsminister Franz Müntefering, also ein sozialdemokratischer Spitzenmann, die Existenz einer sozialen Unterschicht in Deutschland geleugnet hat (was übrigens auch jeder Alltagserfahrung widerspricht). Die Verdrängung der Kategorie Unterschicht hat, so der Berliner Professor für Europäische Ethnologie, zumindest zwei Ursachen. Erstens: Wer von Unterschicht spricht, muss auch von Oberschicht sprechen und damit von Herrschaft, Macht und struktureller Ungleichheit. Zweitens schwinge beim Begriff Unterschicht die durch kapitalistische Verhältnisse erzeugte Ungleichheit mit, während im Gegenbegriff der sozial Schwachen, den die Münteferings und auch die meisten PolitikerInnen Österreichs vorziehen, das individuelle Versagen mitschwinge.
Die gefühlte Unterschicht
Der seit kurzem in Wien lehrende deutsche Soziologe Sighard Neckel findet den Begriff Unterschicht aktueller denn je. Immer mehr Menschen nehmen sich nämlich selbst so wahr. Mit dem Wohlfahrtsstaat hat sich das Bild der Gesellschaft als dickbauchige Zwiebel etabliert. Jetzt schrumpft die Mitte, die Polarität wird immer stärker. Fragt man Menschen heute, wie sie die Gesellschaft sehen, kommt die Dichotomie oben-unten immer öfter vor. Gewinner und Verlierer das ist ein generelles Deutungsmuster geworden. In den aktuellen Daten der Ebert-Studie (der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, die Red.) kommt dies in der hohen Zustimmung zu der Aussage zum Ausdruck, dass es keine Mitte mehr gibt, sonder nur ein Oben und ein Unten. Das Erstaunliche ist: Die Zahl derer, die sich zu den Ausgeschlossenen zählen, ist viel größer als die, die man den Fakten nach dazu zählen würde. Es ist eine gefühlte Unterschicht.
Der Ebert-Studie zufolge zählen sich 4 Prozent der Westdeutschen und 25 Prozent der Ostdeutschen zu jener untersten Sozialkategorie des abgehängten Prekariats, dessen Lebensschicksal vor allem durch eine grundlegende Existenzunsicherheit gekennzeichnet sei. Gesamtdeutsch gerechnet: Acht Prozent der Leute fühlen sich als Unterschichtler. Und wo reihen sich die ÖsterreicherInnen ein? Sighard Neckel: Anders als im übrigen Europa gibt es hier praktisch keine Untersuchung zur sozialen Selbsteinschätzung. Das hat mich sehr überrascht. Die österreichische Gesellschaft weiß nicht, wie sie sich selbst wahrnimmt.
Das Problem sei, so Sighard Neckel bei der IFK-Tagung, dass die Selbsteinschätzung, zu denen da unten zu gehören, heutzutage mit so viel Depression und Frustration verbunden ist. Lange Zeit war es durchaus kein Problem, zu den Unteren zu gehören, es war Teil des Selbstverständnisses und es gab politische Organisationen, mit denen die Armen sich identifizieren konnten, weil sie sie (scheinbar?) handlungsfähig gegen die Herrschenden machten. WissenschaftlerInnen vermeiden Spekulationen, ob und wann die Selbstorganisation der Unterschicht ein politischer Faktor wird. Die Journalistik jedoch kann sich an den Dichter halten: Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine; die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Das ist nicht von Musil.
Info:
Das Buch zur Tagung aus der IFK_Edition Parabasen:
Rolf Lindner / Lutz Musner (Hg.): Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der Armen in Geschichte und Gegenwart.
Enthält neben Arbeiten der oben Zitierten u. a. einen Beitrag des Wiener Historikers Wolfgang Maderthaner: Anspruchsvolle Schäbigkeit. Zur Wiener Unterschicht um 1900.
29. Februar: Aktionstag gegen Prekarisierung.
Verschiedene Organisationen wie Gewerkschaften, Attac, Arbeitsloseninitiativen oder die Generation Praktikum möchten dabei auf die zunehmende Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen aufmerksam machen. Am Programm stehen Pressekonferenz und Straßenaktionen. Weitere Infos unter http://precarios.wordpress.com.