Seit einem halben Jahr tobt jetzt schon die Debatte zur Mindestsicherung. Diejenigen, die das in ihrem Alltag betrifft, kommen aber nicht vor. Sie werden nicht gefragt, wie ihr Leben aussieht. Sie werden nicht gefragt, welche Probleme sie bewegen.„Die da diskutieren, haben dicke Brieftaschen und keine Ahnung, was Armut bedeutet“, sagt Hertha S. zu ihrem Alltag am finanziellem Minimum. Diejenigen Minister und Klubobleute, die Armutsbetroffene als Sozialschmarotzer verhöhnen, haben an einem einzigen Tag doppelt so viel Geld zur Verfügung wie Mindestsicherungsbezieher_innen in einem ganzen Monat für ihre existentiellen Lebenskosten. Die Verhältnisse gehen da völlig verloren. Was das Geld und die Finanzierung betrifft, müssen die Relationen auch zu Recht gerückt werden. Beispielsweise könnte man mit den jährlich in Steueroasen hinterzogenen Steuergeldern die Mindestsicherung (MS) die nächsten 150 Jahre ausbezahlen. Insgesamt macht die MS 0,4% des österreichischen Staatsbudgets für die ärmsten 3% der Bevölkerung aus.
Wenn man nun die Betroffenen und die Praktiker_innen vor Ort fragt, dann werden all die vergessenen und verschwiegenen Probleme sichtbar, die bisher kaum Thema sein durften. Es gibt eine Reihe von Problemen in der MS, die sich nicht nach den Kampagnen der Parteibüros richten: Fehlende Soforthilfe, Aufwand bei Menschen mit Behinderungen, veralteter Unterhalt, mangelnde Hilfe bei Gesundheitsproblemen, Nicht-Inanspruchnahme, schlechter Vollzug, nicht leistbares Wohnen.
Zum Beispiel Behinderungen. Was in der Diskussion untergeht: In den meisten Bundesländern kommt der MS auch die Rolle zu, ein finanzielles Existenzminimum für Menschen mit erheblicher Behinderung, wenn sie in Privathaushalten leben, sicherzustellen. Auf deren besondere Bedürfnisse hat die MS derzeit keine Antwort. Für die benötigte Unterstützung bei der Besorgung von Einkäufen, der Reinigung der Wohnung, der persönlichen Unterstützung bei Körperpflege und Ernährung.
Soforthilfe: Funktioniert nicht. Wann immer es keine effektive Soforthilfe gibt, ist das dramatisch. In existenziellen Notlagen sind drei Monate Warten auf eine Entscheidung zu lange: wovon in der Zwischenzeit gleichzeitig die Miete zahlen, Nahrungsmittel und vieles andere Notwendige kaufen? „Überbrückungshilfen“ sind vielerorts eher die Ausnahme denn die Regel; sofern sie gewährt werden, ist die Form oder Höhe oft völlig unzureichend.
Gesundheit: Gibt es seitens der Unterstützungsfonds der Krankenkassen keine oder nur bescheidene Unterstützung, sind etwa Therapien, Brillen, Schuheinlagen oder Hörgeräte nicht finanzierbar. Selbiges gilt für Zahnersatz, Diätkost bei Diabetes wird zum unleistbaren „Luxus“. Auch die Befreiung vom Kostenbeitrag für Anstaltspflege gilt zwar für die regulär Versicherten, nicht aber für mitversicherte Angehörige – und damit in aller Regel nicht für die Kinder in MS-Haushalten. Eine Nicht-Inanspruchnahme kann wiederum dazu führen, dass notwendige Behandlungen oder Untersuchungen nicht durchgeführt werden und sich gesundheitliche Probleme dadurch verschärfen.
Es gibt viele vergessene Probleme in der Mindestsicherung. Nach einem halben Jahr abgehobenen Wegschauens ist es jetzt Zeit sie in den Blick zu nehmen.