"Hanna und ich": Andrea Winkler und ihr neues Buch
Arme Närrchen im Selbstgespräch, eine stumme Hauptfigur, Sätze von rätselhafter Klarheit: Das poetische Universum der Schriftstellerin Andrea Winkler verführt und entzieht sich zugleich. Ihr neues Buch Hanna und ich erzählt von einer immer unwirklicher werdenden Realität.Die Geschichte: ist im Suchen begriffen, heißt es zu Beginn von Hanna und ich. Dieser Satz beschreibt auch das poetische Programm der 35-jährigen Oberösterreicherin Andrea Winkler, die vor zwei Jahren mit ihrem Kurzprosaband Arme Närrchen beim Grazer Literaturverlag Droschl debütierte. Ihre Texte enthalten keine abgeschlossenen Handlungen, sondern verstehen sich als grundsätzlichere Erkundungen im Sprach- und Weltgelände. Im Schreibprozess begibt sich Winkler mit ihren Figuren auf die Suche nach einer Wirklichkeit, die uns wie sie im Gespräch betont nicht bloß metaphorisch abhanden zu kommen droht.
Du bist auf dem Land aufgewachsen, in Freistadt an der oberösterreichischen Grenze zu Tschechien. Was überwiegt für dich in der Erinnerung: der natürliche Freiraum oder die ländliche Enge?
Von meinen Eltern her gab es einerseits schon klare Strukturen, aber innerhalb dessen hatte ich schon als Kind sehr viele Freiräume. Insofern hat es mir nie Leid getan, in einer Kleinstadt aufgewachsen zu sein. Prägend waren für mich die Fixpunkte des kulturellen Lebens, etwa die Localbühne Freistadt, ein Programmkino, das ich schon mit 15 regelmäßig besuchte, oder das Jazzatelier im nicht weit entfernten Ulrichsberg. Da gab es jede Menge Filme und Konzerte, die ich zunächst absolut nicht verstanden habe was mich aber nicht davon abgehalten hat, mich damit auseinander zu setzen. In meinem Freundeskreis gab es ganz viel Diskussion und dadurch ausgelöst ein Mit- und Voneinanderlernen. Im Nachhinein betrachtet erstaunt mich die Verschiedenheit der Leute. Das war absolut kein homogener Zirkel. Geeint hat uns die Freude am Gedankenaustausch. Jetzt erlebe ich das nur noch in meinem engsten Umkreis, darüber hinaus kaum.
Wie erlebst du deine Geburtsstadt heute?
Mein Eindruck ist über Freistadt hinaus der eines kollektiven Kleinstadtsterbens. Die ökonomische Struktur hat sich radikal verändert: Früher waren da noch viele Kleinbetriebe, die mittlerweile alle weg sind. Jetzt sind die Ränder dieser Städte alle gleich Ansiedlungen von Firmenketten. Wo früher Identität war, gibt es heute nur mehr ein Ersetzen. Kaum funktioniert was nicht, ist schon das nächste da.
Wie bist du zum Lesen und zum Schreiben gekommen?
Da war auch die kommunale Infrastruktur entscheidend, weil ich meinen Lesestoff hauptsächlich aus der Stadt- und der Pfarrbücherei bezogen habe. Und dann gab es eine Zeit, wo ich kaum gelesen, sondern viel mehr Tagebuch geschrieben habe. Von meinem zehnten Lebensjahr gibt es da eine Schriftspur.
Wann und wie hat sich dein Tagebuchschreiben in Text, in Literatur verwandelt?
Wenn ich mir meine jugendlichen Aufzeichnungen heute anschaue, würde ich das absolut nicht als Literatur bezeichnen. In manchen Passagen entdecke ich aber von der Rhetorik her Dinge, die jetzt in anderer Form in meinem Schreiben wieder auftauchen.
Heißt das, dass sich die permanente Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wie ein roter Faden durch deine Arbeit zieht?
Absolut. Gleichzeitig ist in dieses Schreiben auch immer das eingeflossen, was ich gerade gelesen habe, oft auch klassische Mädchenliteratur alle Trotzkopfbände, und zwar mit Tränen in den Augen. Wichtig war für mich darin das Moment der Verwandlung, des Hineinschlüpfens in erfundene Figuren. Dieses Spiel hat sich wiederum vom Lesen auf den unmittelbaren Lebensraum der Kindheit, den Garten und den Wald, ausgedehnt.
Liegt darin nicht auch ein Verarbeiten des Unverstandenen, Unverdauten, was einem gerade als Kind täglich begegnet?
Natürlich. Mit einer meiner Schwestern habe ich oft Schule gespielt, und ich bin jetzt noch erstaunt darüber, wie entsetzlich sich in diesen Spielen die Schule dargestellt hat. Bei mir war schon sehr früh eine ausgeprägte Wahrnehmung von sozialen Prozessen und eine ganz starke Betroffenheit über Ungerechtigkeit vorhanden. Weil ich nie so ein Gemeinschaftswesen war wie andere, habe ich das Beunruhigende am Gruppenverhalten sehr früh zu beobachten begonnen. Geborgen gefühlt habe ich mich in der Familie, mit all den Schwierigkeiten, die dem Familienleben eigen sind, und in dem schon angesprochenen Freundeskreis. Gerade das Lose an diesem Zusammenhang habe ich paradoxerweise immer viel verbindlicher empfunden als jene Arten Gesellschaft, in die man hineingezwungen wird.
Das heißt, dass du das Funktionieren von Gemeinschaft immer schon in der Vielfalt erlebt hast, während in der Homogenisierung von Anfang an eine Kränkung lag …
… Genauso würde ich es sagen. Das trifft auch für meine späteren Erfahrungen mit Gesellschaft zu. Da wird oft natürlich mit sehr subtilen Mitteln Macht und teilweise auch Gewalt ausgeübt. Entscheidend ist für mich aber der einzelne Mensch in seiner potenziellen Freiheit gegenüber den festgelegten Kontexten. Es geht um ein Menschsein jenseits der lebensgeschichtlichen Faktoren, die wir als bedeutsam ins Spiel bringen.
Würdest du mit dieser Haltung auch die notwendige Voraussetzung für Arbeit im sozialen Bereich jenseits von Disziplinierung und Verwaltung beschreiben? Wie nimmt sich für dich im Nachhinein deine Arbeit als Betreuerin von Jugendlichen aus?
Der Schwerpunkt meiner Arbeit bestand zunächst in der Betreuung von Mädchen in einem Jugendzentrum im 23. Bezirk. Da das Zentrum von einem eigenständigen Verein geleitet wurde, konnten wir vergleichsweise selbstständig agieren. Ich habe im zweiten Jahr die Leitung übernommen und der Einrichtung gemeinsam mit meinem Team ein neues Gesicht zu geben versucht. Ein Schwerpunkt war die gruppenorientierte Arbeit, was für die Jugendlichen eine große Herausforderung darstellte. Das Leben an der Triester Straße ist im Grunde trist und perspektivenlos.
Wie kann unter solchen Umständen wiederum eine positive Form von Gemeinschaft entstehen?
Ich habe bei diesen Jugendlichen eine Solidarität erlebt, auf die ich in anderen, wesentlich besser situierten gesellschaftlichen Bereichen nie gestoßen bin. Es passiert dort manchmal, dass jemand aus seiner Wohnung fliegt und er kann damit rechnen, dass er sofort bei jemand anderem unterkommen kann. Das letzte Bier wird geteilt, zumindest hatte ich oft den Eindruck, dass es so ist. Diese Grundsolidarität kommt vielleicht aus den gemeinsamen Bedrängnissen.
Habt ihr euch in der Arbeit auf diese Solidarität bezogen?
Von unserer Seite war es wichtig, Strukturen der Regelmäßigkeit aufzubauen. Man darf die angesprochene Solidarität nicht als Projektionsfläche für die eigene Sehnsucht nach Kumpelei benützen. Unter Sozialarbeitern gibt es zwei Extremtypen: Die einen wollen unbedingt Kumpel sein, während die anderen ihren Kontrollwahn ausleben. Respekt bei den Jugendlichen erhältst du aber weder auf die eine noch auf die andere Weise. Und romantisieren möchte ich dieses Leben auf keinen Fall. Jugendliche spiegeln sehr exakt, was insgesamt los ist ziemlich unfair, dass man ihre Ausschreitungen, ihre Gewalt, ihre Koma-Trinken sehr einseitig problematisiert, ohne den gesellschaftlichen Rahmen zu thematisieren, innerhalb dessen ein solches Verhalten geübt, ermöglicht und vielleicht forciert wird.
Im Schatten deiner Arbeit hat sich dein Schreiben entwickelt bis hin zu dem Punkt, dass du nun seit einiger Zeit als freie Schriftstellerin lebst und bereits deinen zweiten Prosaband veröffentlicht hast. Wie entstehen deine Texte?
Grundsätzlich gehe ich von einem Innen aus. Und das Innenleben der Figuren, die sich auf dem Papier entwerfen, ist immer hochlabil. Es sind Suchbewegungen innerhalb von chaotischen Zuständen, die ich literarisch zu gestalten versuche. Im Fall des neuen Textes Hanna und ich hatte ich von Beginn an das Bild einer Figur im Kopf, die nicht mehr sprechen kann. Damit stand ich aber auch vor dem Problem, diese Hanna mit anderen Figuren in Verbindung zu setzen. Aus dieser Grundkonstellation hat sich notwendigerweise der enge Raum der Begegnung in Form des Ladens ergeben, in dem Hanna auf die anderen trifft, auch wenn dieser Raum mit all seinen Ingredienzien und Verschachtelungen in sich wiederum unendlich ist.
Entscheidend war für mich von Anfang an die Frage, wie ich mich als Schreibende zu den Figuren verhalte, wie ich auf sie zugehe. Da gab es eine starke Empfindung des Hingezogenwerdenwollens. Hanna selbst ist in meiner Wahrnehmung eine Figur, die zwar in der Geschichte ist, aber auf der anderen Seite auch pausenlos hinausgeschossen und zurückgestoßen wird. Für mich hat Hanna ein großes Potenzial an Sehnsucht nach Verschwimmen, nach Entgrenzung. Gleichzeitig gibt es da diese Angst vor Konturverlust eine Grundspannung, die sich im Text niemals auflöst.
Woher kommen dann die anderen Figuren des Textes?
Sie kommen und gehen einfach, und darin besteht auch ihr Geheimnis. Für mich handelt es sich dabei um eine Art von Wirklichwerden, eine Leibhaftigkeit, die immer erst bevorsteht. Die Figuren sind zu einer Bewegung im Unsicheren herausgefordert, die gleichzeitig ein Potenzial an Sehnsucht und an Zerstörung hat. Im Grunde strecken sie sich alle nach etwas aus, was sie nicht greifen können und vielleicht gehen sie dabei allzu brutal über den andern hinweg.
Der Literaturkritiker Cornelius Hell hat gemutmaßt, dass in Hanna und ich nicht die Figuren verletzt sind, sondern die Zusammenhänge, in denen sie sich bewegen. Das würde einen Raum für eine politische Interpretation deiner Texte öffnen. Spiegelt sich in diesem Bild deine Wahrnehmung unserer Wirklichkeit?
Aus meiner Perspektive ist unsere Wirklichkeit einem Prozess schleichender Derealisierung unterworfen. Die Ökonomisierung und Instrumentalisierung der Verhältnisse bewirkt, dass selbst zwischenmenschliches Agieren einer vollkommenen Verunsicherung überantwortet ist. In dieser Erfahrung besteht auch die große Verwundung der Figur Hannas, die ja nicht traumatisiert ist, weil sie sich über diese Erfahrung sehr wohl Rechenschaft ablegen kann.
Würdest du der Einschätzung zustimmen, dass die große Katastrophe in der immer stärkeren Kurzfristigkeit und Unverbindlichkeit in den Arbeitsverhältnissen genauso wie den sozialen Beziehungen besteht?
Ja, absolut. Ich bemerke diese Veränderungen teilweise in meiner unmittelbaren Umgebung. In meinen Augen wird es zusehends unmöglicher einzuschätzen, ob gewisse Situationen vertrauenswürdig sind oder nicht. Das hat zur Konsequenz, dass man als Mensch letztlich auch in der Selbstbegegnung ausfällt. Denn wie sollst du mit dir sein, wenn du nicht mit anderen sein kannst? Wie sollst du dich noch als jemand in Erfahrung bringen, der morgen ein Gedächtnis von gestern hat und sich selbst damit in eine Verbindung stellen kann? Das heißt aber auch, dass wir als handelnde politische Subjekte total ausfallen. Das empfinde ich als eine Form von Kriegszustand. In der daraus resultierenden Leere wird auch jede Form von Korrektiv ausgeschaltet, weil ein solches nur noch als Bedrohung wahrgenommen wird.
Das ist doch präzise das, was dem Ministerialbeamten Haidinger passiert ist: Anstatt auf seine Kritik einzugehen, versucht man ihn zu diskreditieren und in aller Öffentlichkeit unmöglich zu machen.
Und genauso spielt sich das auch völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit im kleinen Kreis ab. Da hat sich was ganz massiv verändert: Ich habe noch eine Erinnerung an intakte Zusammenhänge, in denen es möglich war, mich auszusetzen, weil ich darauf vertrauen konnte, nicht vernichtet zu werden. Es war möglich, sich in der gemeinsamen Hilflosigkeit zu begegnen. Das ist die Grundbedingung dafür, dass man wachsen und werden kann. Wenn ein solcher Zusammenhang weg und das Eigene ständig bedroht ist: Wie soll da eine Auseinandersetzung mit Welt überhaupt noch stattfinden? Ich beobachte eine starke Tendenz dazu, sich selbst nicht einzugestehen, dass man Angst hat. Das führt zu einer Sprachlosigkeit, die den am meisten bedroht, der sie aufbrechen will.
Wie empfindest du vor diesem Hintergrund deine eigene Lebenssituation? Einerseits bist du in der privilegierten Lage, von deiner künstlerischen Arbeit leben zu können, andererseits bist du als Autorin, die sich in ihrem Denken und Empfinden solchen Wahrnehmungen aussetzt, besonders exponiert.
Grundsätzlich merke ich, dass es Interesse für meine Arbeit gibt, und das find ich schön. Bedroht fühle ich mich eben mehr durch das reale Leben, durch die Tatsache, dass das, was mir mitgegeben worden ist, in gewissen Zusammenhängen nicht mehr gilt. Dieser Verlust ist mit ungeheuren Kosten verbunden ganz realen, aber auch symbolischen, auf der Ebene der Freundschaft und der persönlichen Aufrichtigkeit.