Die Verteidigung SarajevosArtistin

Comics aus (Ex-)Jugoslawien

Kult-Comics: Valter verteidigt Sarajevo, ein jugoslawischer Comic aus den 70er Jahren, und Joe Saccos Sarajevo von 2015 geben tiefe Einblicke in die Geschichte dieser Stadt. Text: Martin Reiterer.

Es ist wohl eine der eindrücklichsten Kinoszenen überhaupt, die es über eine Stadt gibt: Zwei Nazis unterhalten sich auf einem der Hügel Sarajevos über den mysteriösen Anführer des Partisan_innenwiderstands mit dem Decknamen Valter (dt. Walter): «Merkwürdig! Seit ich in Sarajevo bin, suche ich Walter und finde ihn nicht. Und jetzt, wo ich gehen muss, weiß ich, wer er ist.» Und indem der Standartenführer von Dietrich auf die Dächer von Sarajevo zeigt, äußert er die zwei ikonischen Sätze: «Sehen Sie diese Stadt? Das ist Walter!» – Der Widerstand hat die Stadt geeint, der Partisan_innenanführer ist zum kollektiven Symbol der Stadt geworden.

Hajrudin Krvavacs Valter brani Sarajevo (Einer verteidigt Sarajevo, auch Walter verteidigt Sarajevo) kam 1972 in die Kinos und wurde nicht allein in Jugoslawien zum Kassenschlager. Herausragend war der Erfolg vor allem auch in der Volksrepublik China, wo der Film zu den meistgesehenen in den 1970er-Jahren avancierte. Anlässlich eines Besuchs in China wurde Hauptdarsteller und Kultstar Bata Živojinović am Flughafen von über einer Million Fans empfangen. Nun ist der Comic gleichen Namens, ­Valter verteidigt ­Sarajevo (1975) von Ahmet Muminović, auf Deutsch erschienen. Das ist eine gute Gelegenheit, sich einer jugoslawischen Ikone anzunähern, die außer in Film und Comic auch in Straßen- und Bäckereinamen oder Pop-Songs ihr Weiterleben gefunden hat.

Bankangestellter und Partisan.

Valter war der Nom de Guerre von Vladimir Perić, 1919 geboren und ausgerechnet am Tag der Befreiung Sarajevos, am 6. April 1945, von der Deutschen Wehrmacht und ihren Verbündeten durch eine Granate ermordet. Perić, Bankangestellter und Wirtschaftsstudent in Belgrad, war 1941 aufgrund seines politischen Einsatzes für Arbeiterrechte nach Sarajevo versetzt worden. Am 6. April – in Bosnien ein schicksalhaft wiederkehrendes Datum – griff die deutsche Wehrmacht Jugoslawien an. In den folgenden Jahren beteiligt sich Perić am Widerstand der Partisan_innen gegen die deutschen Nationalsozialisten, die kroatische Ustascha und die serbischen Tschetniks. Seine herausragenden Fähigkeiten bringen ihn bald in leitende Positionen. Sprengungen von Brücken, Gleisen und Telefonleitungen, Überfälle auf Konvois gehörten zu den durchaus wirkungsvollen Sabotageakten der Partisan_innen. Bevor die nationalsozialistischen Besatzer im Frühjahr 1945 ihren Rückzug antreten müssen, planen sie, die zentralen Infrastrukturen Sarajevos zu zerstören. Valter, inzwischen an der Spitze sämtlicher Untergrundaktionen der Stadt und von den Deutschen fieberhaft gesucht, verbleibt in Sarajevo, um die Pläne der Nazis zu vereiteln. Wie sehr die Bevölkerung es ihm dankte, kann man an den vielen tausenden Menschen erkennen, die wenige Tage nach seinem Tod zu seiner Beerdigung erschienen.

Krvavacs Film wird den Mythos Valter auf einen unerschütterlichen Sockel setzen. Während der Regisseur zum einen eine meisterhafte Mischung aus Partisan_innenkriegsfilm und Spionagethriller kreiert, deutet er zum anderen Valter mit seiner Schlussszene als Sinnbild brüderlicher Solidarität und kollektiver Verteidigung einer Stadt, die ihre individuellen ethnischen Identitäten hinter ihre Geschlossenheit stellt.

Der Comic, der ursprünglich 1975 in Magazinen erschienen ist, besteht dagegen aus sechs in sich abgeschlossenen Episoden, die jeweils eine Sabotageaktion der Partisan_innen oder umgekehrt Fallen der deutschen Wehrmacht, wie etwa das Einschleusen eines «falschen Valters», schildern. Drei der Episoden, also die Hälfte, sind merklich an den Film angelehnt, zugleich aber aus dessen Gesamtdramaturgie herausgelöst. Schließlich fehlt die Schlussszene aus Krvavacs Vorlage. Der Schwarzweißcomic, der übrigens kaum weniger erfolgreich war als der Film, setzt neben Spannungselementen stärker auf das heldenmütige Porträt von Vladimir Perić Valter und seine partisanische Aktionen. Zugleich lebt er von den Szenen und Wahrzeichen in der Stadt, die im Hintergrund dargestellt sind, wie etwa die Begova-Moschee oder der osmanische Uhrturm.

Mythisierung und Krieg im Krieg.

Weshalb der Mythos Valter jedoch eine bis in die Gegenwart anhaltende Spannung erlebt, ist wohl mit den Ereignissen zu Beginn des Bosnienkriegs verknüpft. Im März 1992 wurden in Sarajevo große gewaltfreie Demonstrationen abgehalten, auf denen Plakate und Transparente mit den Aufschriften «I am Walter» und «Wir sind Walter» oder «Sex without Borders» mitgeführt wurden. Valter ist, noch vor dem Tod des Regisseurs Krvavac gegen Ende des Jahres, abermals ein einigendes Symbol gegen eine nationalistische Aufspaltung. Am 6. April 1992 fallen jedoch die ersten Schüsse auf die demonstrierenden Sarajevoer_innen, zwei Frauen kommen ums Leben, die friedlichen Hoffnungen zerbrechen. Trotz dieses bitteren Misserfolgs war die Bewegung vermutlich die stärkste Stimme für den Frieden in dieser Zeit.

Dass hinter der Mythisierung eine komplexere Realität herrschte oder überhandnahm, beschreibt ein anderer Comic, Joe Saccos ­Sarajevo (2015). Der Pionier und Meister der Comicreportage hatte bereits im Jahr 2000 eine erschütternde Comic-Reportage über den Bosnienkrieg und die Sicherheitszone Goražde gezeichnet (dt.: ­Bosnien, 2010). ­Saccos Methode verknüpft «Oral History» mit genauer Recherche und detaillierter Zeichnung. Durch die Einbeziehung seines Alter Egos spielt er mit Selbstironie und fordert die Ergebnisse seiner Befunde auf verschiedene Weise heraus.

Seine in Sarajevo enthaltenen Comics Der Fixer. Eine Geschichte aus Sarajevo (ursprünglich 2003) und Soba (ursprünglich 1998) beziehen sich auf die Zeit der fast vier Jahre andauernden Belagerung von Sarajevo. «Wer soll Sarajevo verteidigen?», heißt es da, ohne dass sich die Frage explizit auf Valter beziehen würde. Doch was Sacco beschreibt, ist ein «Krieg im Krieg», der vom Anbeginn der Belagerung bis gegen Ende des Jahres 1993 anhielt und den Zusammenhalt jener multiethnischen Gesellschaft, den es zu verteidigen galt, untergrub. Nachdem die bosnische Armee im Zuge der Unabhängigkeitserklärung Bosniens von Jugoslawien am 1. März 1992 angewiesen war, ihre Waffen der Jugoslawischen Armee auszuhändigen, stand die Verteidigung der neuen Hauptstadt auf wackligen Beinen. In diesem krisenhaften Zustand erlaubte die Regierung von Alija Izetbegović die Formierung autonomer Truppen, angeführt von kleinkriminellen Warlords, die binnen kurzer Zeit zu «militärischen Popstars» aufstiegen und als «Verteidiger» Sarajevos allerlei Privilegien genossen. Aufgrund ihrer Willkürherrschaft in ihren mächtigen Positionen kam es zu Gräueltaten insbesondere gegen serbische und kroatische Sarajevoer_innen, die von Izetbegovićs Regierung gedeckt und verschwiegen wurden. Erst als die Warlords der Regierung selbst gefährlich zu werden drohten, leitete diese in einer Form von Abrechnung das «Ende der ruhmreichen Verteidiger Sarajevos» ein.

Saccos Comicreportage wirft ein scharfes, erhellendes Licht auf die komplexen, verworrenen Verhältnisse während der Belagerungszeit. Doch bei aller Schonungslosigkeit, mit der Sacco bestürzende Wahrheiten an den Tag befördert, ist sein Comic auch eine Huldigung an jene Sarajevoer_innen, die mit Ironie und Sarkasmus die Zeit des Krieges zu überstehen versuchten.

Dass Valter als subversive Figur, die den Geist einer antinationalistischen Einstellung repräsentiert, den Bosnienkrieg überlebt hat, zeigt etwa der Song Walter aus dem Album 5 do 12 (2010) der bosnischen Dub-Band Dubioza Kolektiv, mit dem die Musiker angesichts der Entwicklungen im Wahljahr 2010 auf eine ethno-nationalistische Politik reagieren. «Dieses Land darf nicht dreigeteilt werden» («Ova zemlja nije djeljiva sa tri»), heißt es da etwa gegen die durch das als provisorisch intendierte Dayton-Abkommen geerbte politische Pattstellung und Förderung der inneren Zersplitterung, die eine Folge des Proporzsystems (in Bosnisch-Bosniakisch, Bosnisch-Serbisch, Bosnisch-Kroatisch) ist. In ihrem Statement, sie seien keine Bosniaken, sondern Bosnier, klingt ein klares Bekenntnis zu einem interethnischen Identitätsverständnis an. Und am Ende des Walter-Songs beschwört das Dubioza Kolektiv geradezu Valters Rückkehr: «Wenn wir ihn am dringendsten brauchen, kommt Walter zurück.» («Najviše kad treba Vratice se Walter.»)

Ahmet Muminović: Valter verteidigt Sarajevo

Aus dem Bosnischen von Ivan Petrović

bahoe books 2018

120 Seiten, 14 Euro

Joe Sacco: Sarajevo

Aus dem Englischen von Christoph Schuler

Edition Moderne 2015

192 Seiten, 24 Euro