Cherchez la Femme: Frauen im Porträt – Eine Kolumne von Jella Jost
Robert Sommer hatte mir vor vielen Jahren ein Buch in die Hand gedrückt: Jüdische Frauen in Wien. Er wusste, dass dies ein Lebens-Thema war, auch aufgrund meiner Arbeiten am Schauspielhaus Wien mit einem israelischen Regisseur befasste ich mich zwischen 2004 bis 2007 intensiv mit meiner Familiengeschichte, mit dem Holocaust, mit dem einen Zweig meiner Familie, Unternehmern, und mit meiner jüdischen Verwandtschaft, alle Künstler.
Foto: Jella Jost, privat
Es erschütterte mich, wie viele schwarze Löcher es gab. Jahre später – ich hatte die Beschäftigung mit der Shoah zu Seite gelegt, denn es war unerträglich schmerzlich – kamen die blinden Stellen jedoch wieder zurück, klopften an meine Türe, fast periodisch wie das Wetter, die Auslassungslücken, die Vergessenserinnerungen. Immer wieder ergriff ich Bücher über die Nazi-Zeit, las Details, anhand derer ich merkte, wie wichtig so minutiöse Einzelheiten sind, sie machen Fühlen möglich, innerhalb eines gewissen Grades an Mitmenschlichkeit und an Aufarbeitung. Und diese ist immer noch nicht zu Ende. Das gilt nicht nur für mich. So waren jene jüdischen Frauen und nicht-jüdischen Frauen in den KZs mein Faden geworden, an dem ich entlangsuchte, um mich zu verstehen. Irgendwann da war ich dann bei meiner Mutter und fragte sie, 85 Jahre alt, woran sie sich erinnere, ihre Großmutter sei doch Wendin gewesen, eine Sorbin. Wie war es der Familie gegangen unter dem NS-Regime? Da kam dann immer nichts. Ein Lächeln. Ein fragender Blick. Und die Antwort: Darüber hat sie nichts erzählt. Ich insistierte nicht auf mehr. Ich stelle nicht die richtigen Fragen. So vergingen die Jahre, meine Mutter starb 2010. Das Thema trug ich jedoch noch auf der Schulter, aber heute ist es keine Last mehr, und ich verstehe mehr und mehr.
Urgroßmutter lebte in einem einfachen Haus aus Lehm in der Lausitz an der Grenze zu Polen. Ihr wunderbares Lächeln konnte mir sonst keine Andere geben.
Vor ein paar Wochen stolperte ich über einen Artikel über die Wenden, die Sorben. Wieso weiß ich darüber nichts außer ein paar Kinderlied-Zeilen auf Sorbisch? Ich las also den ganzen Artikel, was ich in der Tat nicht immer tue. Das Bild meiner Familie in meinem Kopf wurde, wie an einem Film-Set, ausgeleuchtet, Person für Person, Figur für Figur. Urgroßmutter lebte in einem einfachen Haus aus Lehm, in der Lausitz, in dem kleinen südöstlichen Zipfel Deutschlands an der Grenze zu Polen. Historisch betrachtet sind die Sorben die slawischen Ureinwohner_innen dieser Gegend, eine Volksminderheit in Deutschland, mit eigener Sprache, Tradition und Brauchtum. Die Ortsschilder und Behörden sind zweisprachig. Als Kind sah ich ältere Frauen in Trachten auf der Straße, zu Festen wie dem Osterreiten oder der Vogelhochzeit (25. 1.) Sie waren sehr auffällig mit großen dreieckigen Kopfbedeckungen, vor allem in der 1000-jährigen Stadt Bautzen, in der meine Mutter geboren wurde (sorbisch: Budysin). Heute verbindet man mit den Orten eher Rechtsradikalismus. Zur Zeit der DDR war das eine gottverlassene Gegend. Ich liebte genau das, als Kind des Wirtschaftswunder-Westens. Ich war in andere (konsumfreie und antikapitalistische) Zeiten versetzt; kaum Autos, Trabi oder Wolga, oder mal ein Fuhrwerk, Pferde, und eckige Pflastersteine, auf denen ich mir die Knie rot schlug, und Krabat, das mir liebste aller Bücher. Da meine Eltern vor dem Bau der Mauer mit einem Baby, meinem Bruder, und einem Koffer nach Wien geflohen war und ich dort in den 60ern geboren wurde, kamen wir immer aus dem Westen angereist. Urgroßmutter, ich erinnere mich so gut an dich, stets lächelnd, mit schwarzem Kopftuch, auf der Holzbank vorm Lehmhaus sitzend, neben dir die schwarze Katze, in meiner Erinnerung wie ein in Auftrag gegebenes bedeutendes Ölgemälde. Eines Tages, so wurde mir mitgeteilt, sei die Ur-Oma nach ihrem alltäglichen Kaffee und Nachmittagsschlaf nicht mehr aufgewacht. Sie war 93. Ich liebte sie für ihr Lächeln. Dieses wunderbare Lächeln konnte mir sonst keine andere geben.
Was Politik mit Menschen macht «Witajso do nas!»*
Die niedersorbische Sprache existiert tatsächlich noch, aber sie ist akut vom Aussterben bedroht. Während das Obersorbische dem Tschechischen, Slowakischen nähersteht, ist das Niedersorbische dem Polnischen ähnlicher. Nach einer Studie von 1995 sprechen nur mehr 7000 Personen Sorbisch. Wieso wohl sprachen meine Mütter nicht Sorbisch mit mir? Die Sorben kamen mit der Völkerwanderung im 6. Jahrhundert aus Weißrussland und polnischen Gebieten. Sie waren in Stämme unterteilt wie z. B. die Surbi, die Lusici oder die Milceni. Der Name Wenden entstand durch einen Schreibfehler der Römer, die alle ost- und südeuropäischen Völker ohne eigenen Staat kategorisierten. Unterdrückung war für die Wenden und Sorben natürlich kein Fremdwort. Sprache und Kultur wollte man immer wieder eliminieren. Nachdem im 20. Jahrhundert die NSDAP zunächst versucht hatte, die Sorben für ihre Ziele zu vereinnahmen, sowie die Domowina (Dachverband der sorbischen Vereine) in den Bund Deutscher Osten einzugliedern, änderte sich die Politik, nachdem klar wurde, dass die sorbischen Organisationen unter dem Domowina-Vorsitzenden Pawol Nedo sich widersetzten. SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte für die Sorben als «führerloses Arbeitsvolk» besondere «Arbeitsvorkommen» eingeplant. Da ist er immer wieder. Der Mensch, der Eingewanderte, als Nutzvieh in der Hand von Mördern.
Widerstand und Zusammenarbeit mit Otto Bauer
Seit 1937 wurden der Gebrauch des Sorbischen in der Öffentlichkeit und allen sorbischen Vereinigungen verboten. Sorbische Lehrer und Geistliche wurden in entlegene Teile Deutschlands versetzt. So wollte das Regime die Sorben auseinanderreißen. Unter den sorbischen Intellektuellen kam es zu systematischen Verhaftungen, und einige ihrer aktivsten Vertreter wurden in Konzentrationslagern ermordet, wie zum Beispiel Maria Grollmuß und Alois Andritzki. Maria Grollmuß war eine sorbische Publizistin und sozialistische Widerstandskämpferin. Sie war im Arbeitskreis Revolutionärer Sozialisten tätig, vor allem als Unterstützerin politischer Gefangener, Transporteurin illegaler Literatur und als Fluchthelferin. Dabei unterhielt sie Kontakte mit Widerstandsgruppen aus SPD, KPD und SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) und zu dem bekannten österreichischen Sozialisten Otto Bauer. Maria Grollmuß wurde im Dezember 1940 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überstellt. Selbst dort war sie politisch aktiv und konnte aufgrund ihrer Sprachkenntnisse vor allem gefangene Frauen aus Polen und der Tschechoslowakischen Republik unterstützen. Sie starb 1944. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Domowina übrigens eine der ersten Organisationen, deren Tätigkeit von der sowjetischen Militäradministration zugelassen wurde, noch bevor es den besiegten Deutschen erlaubt war, wieder Organisationen zu gründen. Denn, so lese ich im «Spiegel» in einer Ausgabe von 1974, Marschall Iwan Stepanowitsch Konjew verlautbarte: «Das kleine Volk, das auf dem Territorium Deutschlands lebt und im Faschismus so viel erdulden musste, verdient es, unterstützt zu werden.» Es war von Vorteil, die blau-rot-weiße Armbinde der Nationalfarben zu tragen, um den Sowjets zu schmeicheln. So wurden die Sorben als Dekoration für die SED-Spitzen benützt.
Wanzen, Angst und Videos
Die ehemalige DDR bezeichnet dann ihre Landsleute als DDR-Bürger sorbischer Nationalität und bemüht sich um den Erhalt von Kultur und Sprache, es entstehen Gymnasien, die die Sprache unterrichten, TV-Sender wie RBB strahlen Sendungen aus wie « Łužyca», und Artikel 25 der Brandenburger Verfassung sichert dem sorbischen Volk das Recht auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes zu. Das will ich mir näher ansehen, deshalb gehe ich auf die Website von RBB und klicke auf ein Video (siehe Info), der ersten Sendung von 1992, und ärgere mich, dass ich kein Wort verstehe. Wieso wurde uns Sprachlosigkeit hinterlassen? Welche tiefe Angst vor Ausgrenzung, Verfolgung und Tötung muss in den Knochen gesessen haben, sodass meine mütterlichen Ahninnen keine sorbischen Wörter mehr ihr ihren Mund nahmen? Der Verlust der Sprache ist eine Tatsache, mit körperlichen Auswirkungen. Gut. Auch das lässt sich verkraften. Was aber macht die Angst, die wild aussamt und neue Wurzeln schlägt? Kurz vor ihrem Tod glaubte meine Mutter überall Wanzen und Videos zu sehen. Ihr Gedächtnis konnte aufgrund ihrer Demenz nur mehr geringfügig selektiv Schranken des Vergessens aufbauen. Stasi, Furcht und Trauma waren da, frisch und lebendig, als wäre Zeit nie vergangen. Warum sie mir ihre tatsächliche Geschichte nie erzählte, bleibt ein schwarzes Loch. Ein Loch, mit dem sie verschwunden ist.
*«Witajso do nas» ist Niedersorbisch und heißt: «Seien Sie herzlich gegrüßt»
INFO: Die TV-Sendung «Łužyca/Lausitz» in niedersorbischer Sprache mit deutschen Untertiteln auf RBB: www.rbb-online.de/luzyca