Die „Walls of Fame“ im WinterArtistin

Graffitiforscher Norbert Siegl lud zum Flanieren ein

Zuerst entschlossen wir uns zu einem Umherschweifen in der Website www.graffitieuropa.org. Ausgestattet mit Basiswissen verlagerten wir das Umherschweifen in die städtische Realität, was einerseits unangenehm war (die Kälte an diesem Vormittag verfluchte jedes Flanieren), andererseits absolut informativ. Denn unser Guide durch die Welt der Tags und Pieces war der Betreiber der Website, der auch international bekannte Graffitiforscher und -dokumentarist Norbert Siegl.Milch und Butter bleiben länger genießbar, wenn die Temperatur, in der sie gelagert sind, entsprechend niedrig ist. Das Kühlschrank-Prinzip regelt auch das Ablaufdatum der Graffiti in der Stadt. Im Winter bleibt ein großflächiges Piece in der Regel lange an den Walls of Fame, bevor es das unausweichliche Schicksal des Crossing, des Übermalens, des Übersprayens ereilt. Denn in der kalten Jahreszeit sind die Crews und die Solisten der Wiener Sprayerszene nicht annähernd so aktiv wie unter menschlicheren Temperaturen. Auch Norbert Siegl muss also im Winter nicht jede Woche durch die Stadt streichen, um sich den Überblick des Graffiti-Forschers über die gerade aktuellen Produktionen der jungen Straßenkünstler zu verschaffen.

Seine Kamera bleibt ziemlich unbeschäftigt, als er am Tag eines durch alle Kleidschichten dringenden Donauinselwindes ein paar Leute vom Augustin zu einer kleinen Graffiti-Tour vom Heiligenstädter Bahnhof über den Brigittenauer Frachtenbahnhof bis zur Floridsdorfer Abfahrt der Nordbrücke und dem „Louvre“ der Wiener Spraykunst, den legalen Wänden am Radweg entlang der Neuen Donau, mitnimmt.

Nur wenige neue Bilder entdeckt Norbert Siegl heute, obwohl er die Umgebung dank seiner in drei Jahrzehnten trainierten Aufmerksamkeit quasi radarmäßig erfasst. Dafür kann er uns umso mehr über das Phänomen Graffiti aufklären. Im Sommer kann es schon vorkommen, dass selbst ein sensationell gutes Piece nach wenigen Tagen übersprayt wird, sagt er.

„Sorry for crossing“ – Entschuldigung für die Vernichtung

Auch wenn die Stadt legale Wände zur Verfügung stellt – es gibt einfach zu wenige Walls für die vielleicht ein paar hundert Aktive umfassende Szene. Mit einem „sorry for crossing“ entschuldigen sich die fremden Übermaler gelegentlich für die Zerstörung des alten Piece. Diese Höflichkeit ist freilich nicht der Standard-Umgangston. Denn neben dem Mangel an Walls ist auch der Konkurrenzkampf der Crews ein Grund der Übermalungen, sagt Siegl. Man dürfe sich die Graffiti-Szene nicht als Modell gelebter Solidarität vorstellen. Sie sei einerseits in Revierkämpfe verwickelt, andererseits durchaus hierarchisch strukturiert. Kaum wer traue sich, die Masterpieces der Stars anzutasten. Die Kriterien der Karriere sind diffus. Nicht nur die perfekt beherrschte Technik macht einen Nobody zum Star. Auch das Kriterium der Quantität spielt eine Rolle. Wessen Tag, wessen Logo an allen Wänden der Stadt anzutreffen ist, der hat gute Chancen, zum Master zu werden.

Einige solche Masterpieces zeigt uns Norbert Siegl auf unserer Strecke. Ein breiter Nordbrückenpfeiler hat die Ehre, zwei übereinander angebrachte Meisterwerke zu tragen, ein Bild von RESOR und eines von SERS. Besonders SERS dürfte sich seiner Starrolle bewusst sein – das suggeriert seine Selbstdarstellung mit der Krone. An der Betonwand neben dem Radweg ist BUSK vertreten. Das bisher längste Graffito von Wien begründete seinen Ruhm. Es ist hundert Meter lang, befindet sich aber an der Westeinfahrt. Ein ganz großer Name der Spraykunst ist KERAMIK – sein Piece ist an der Seite einer Auffahrt zur Nordbrücke zu bewundern.

Nur Insider wissen, wer sich hinter RESOR, SERS, BUSK oder KERAMIK verbirgt. Die Anonymität der Writer und Sprayer (in diesem Text wird die männliche Form verwendet, weil es unter den Aktiven kaum Mädchen gibt) trägt zum kultivierten Hype des Geheimnisumwitterten bei, schützt aber auch vor Verfolgungen. Obwohl in Wien die Epoche der harten Repression gegen die jugendlichen Sprayer der Vergangenheit angehört (im Unterschied zu Berlin, wo die Street-Artisten mit Polizeihelikoptern wie Schwerkriminelle gejagt werden), bewegen sich die meisten Aktivisten an der Grenze zur Kriminalisierung. Zumal es als hipper gilt, dort zu taggen, wo es verboten ist. Das Trainbombing, d. h. die massenhafte Verzierung von Eisenbahnzügen oder Eisenbahnbauten, zählt nach wie vor zu den Hauptzielen der Graffiti-Bewegung. Das ÖBB-Management rechnet die Graffiti in ihrem Herrschaftsbereich zu den Formen des Vandalismus, unbeeindruckt von den Versuchen des Graffitiforschers Norbert Siegl, die künstlerischen Aspekte dieses globalen jugendkulturellen Phänomens zu betonen.

Die Debatte Kunst versus Vandalismus

Schon 30 Jahre lang beobachtet – und beeinflusst Norbert Siegl die Debatte „Kunst versus Sachbeschädigung“. Zum Geburtsjahr dieser Diskussion könnte man 1977 erklären, meint Siegl. Es war das Jahr, in dem der Zürcher Sprayer Harald Naegeli begann, seine grafischen Wesen weiträumig zu verbreiten. Er wurde verhaftet und wegen Sachbeschädigung verurteilt. Viele Kunst- und KulturwissenschaftlerInnen unterstützten ihn. Sie bescheinigten ihm für seine Tätigkeit die Freiheit der Kunst.

Im Streit um die Definitionsmacht,- deren Pole auf der einen Seite die Polizei, auf der anderen Seite die Graffitiszene selbst sowie die Graffitiforschung und die Kulturwissenschaft darstellen, kann Norbert Siegl auf einen großen Erfolg hinweisen: Er wurde um den Text zum Stichwort Graffiti für die neue 30-bändige Brockhaus-Enzyklopädie gebeten. Kernaussage in diesem ausführlichen Artikel, in dem der Spezialist aus Wien auf die künstlerischen und juristischen Aspekte des Phänomens eingeht:

Graffiti (Einzahl Graffito) ist ein Oberbegriff für viele thematisch und gestalterisch unterschiedliche Erscheinungsformen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich um visuell wahrnehmbare Elemente handelt, welche „ungefragt“ und meist anonym, von Einzelpersonen oder Gruppen auf fremden oder in öffentlicher Verwaltung befindlichen Oberflächen angebracht werden. In der Variante des Graffiti-Writings der Sprayer bezieht der Begriff inzwischen auch völlig legale Formen – offiziell ausgeführte Auftragsarbeiten und künstlerische Produktionen – mit ein.

Brockhaus legt, auf Siegl gestützt, also einen breiten Graffiti-Begriff nahe, der die Klosprüche, die Liebeskritzeleien der Kinder, die Sticker (Aufkleber, neuerdings oft auch in Fingernagelgröße auf Lichtmasten oder Ähnlichem verbreitet), die politischen Slogans an den Wänden oder die verschiedenen Formen von Schablonenkunst einbezieht.

Die interaktive Netz-Enzyklopädie Wikipedia verbreitet eine deutlich andere Definition. Die Spraydose steht im Mittelpunkt, und der ebenso zentrale Hinweis auf die Verletzung der Eigentümerrechte durch Sprayer scheint wie ein Kniefall vor den Machthabern in Deutschland zu sein, die sich in den vergangenen Jahren durch eine verstärkte Kriminalisierung der Sprayerszene hervortun:

Graffiti ist ein Sammelbegriff für gesprühte Bilder und Texte. … Heute werden damit vor allem die von Jugendlichen mittels Sprühdosen illegal oder legal hergestellten Bilder (pieces) bezeichnet. Als Oberbegriff beschreibt es neben den so genannten Tags und Pieces auch die Schablonengraffiti und politischen Graffiti und ist ein Teil der Straßenkunst (Street Art). Graffiti ist ein zentraler Bestandteil der Subkultur Hip Hop. Das Anbringen von Graffiti auf fremdem Eigentum ohne Zustimmung des Eigentümers stellt ein Strafdelikt dar. Graffiti löst immer wieder kontroverse Diskussionen aus, da die Ästhetik sehr unterschiedlich beurteilt wird.

Der Brockhaus der Bildungsbürger vermag das Tempo, mit dem das Wikipedia der Netzgemeinde Wissensstandards verbreitet, nicht mitzuhalten, so viel ist gewiss. Dem engeren Graffiti-Begriff muss größere Durchsetzungskraft bescheinigt werden. Norbert Siegls Definition – die übrigens auch von Thomas Northoff, dem Wiener „Konkurrenten“ in Sachen Graffiti-Dokumentation, unterstützt wird – kommt uns allerdings um ein Eck sympathischer vor. Sie würdigt das Kleine, Unscheinbare. Sie befreit die multiplen Interventionen auf Straches Wahlplakaten – mittels Kaugummi, Spraydose oder Kugelschreiber – aus der Vandalismus-Schublade. Und sie fördert eine subversive Deutung der Tags, die in allen Formen die Stadt überschwemmen: als Proklamation des Rechts, das persönliche Logo frei im öffentlichen Raum zu verbreiten, um den Logos der Weltkonzerne, die diesen Raum als ihr Eigentum betrachten, den Monopolanspruch streitig zu machen.

Aus der Sprayersprache

Tag Ein Signaturkürzel, das das Pseudonym eines Writers darstellt. Häufig als Unterschrift unter gesprayten Bildern zu finden.

Piece Mit der Spraydose ausgeführtes Werk. Die wichtigsten Elemente eines Pieces sind der „Character“ (das figurative Element) und der „Style“ – ein möglichst perfekt gestaltetes „Schrift-Bild“ des eigenen Namens.

Walls of Fame – Meist legale oder geduldete Flächen, an denen die technisch und künstlerisch höchstentwickelten Formen von Graffiti realisiert werden können. Hier können Bilder entstehen, die den „Ruhm“ des Sprayers begründen.

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