«Die Wiener Unterwelt interessiert mich noch»vorstadt

Clemens Marschall in der Augustin-Zentrale (Foto: © Jana Madzigon)

Der Journalist und Autor Clemens Marschall klemmte sich für sein neuestes Buch hinter ein paar Kisten mit Kriminalfotos aus dem Archiv der Pressebildagentur Votava. Ein Gespräch über die Beschäftigung mit Verbrechen, die als äußerst brutal gelten.

Frage: Du hast dich sowohl im Performancebereich als auch in gesellschaftlichen Randzonen intensiv mit extremen Persönlichkeiten beschäftigt und viele porträtiert. Sind dir diese Felder zu langweilig geworden, weil du dich zuletzt (Serien-)Mörder:innen gewidmet hast?

Clemens Marschall: Nein, erstens bin ich vom Verlag (Brandstätter, Anm.) gefragt worden, ob ich mir vorstellen könnte, dieses Buch zu stemmen. Zweitens überschneiden sich immer wieder Themen, wie bei meinem Golden-Days-Buch (Golden Days Before They End, Edition Patrick Frey 2016) oder bei meinem Praterbuch (Der Wiener Prater. Eine Kultur- und Sittengeschichte. Klever Verlag 2017), mit meinem Interesse, Wien immer wieder neu zu vermessen. Somit ist es kein unlogischer Schritt.

Nach welchen Kriterien hast du die Fälle ausgewählt?

Erstens nach den Motiven, zweitens interessante Fälle zum Nachrecherchieren. Es gibt im Buch ein paar Fotos, die für sich sprechen, aber zu denen sich keine Geschichte mehr finden lässt. Bei anderen Fällen ist die Recherche interessanter als das Fotomotiv gewesen.

Wohin haben dich deine Recherchewege geführt? Ich vermute, zuerst zu Tageszeitungsarchiven?

Ja genau, vor allem zur Wiener Zeitung, zum ORF-Archiv und in die Nationalbibliothek, aber es gibt nur wenige Bücher, auf die man zurückgreifen kann. Dann bin ich auch seit Ewigkeiten ein regelmäßiger Flohmarkt-Stierler und stoße immer wieder auf interessante Bücher, wie zum Beispiel aufs Jahrbuch des Sicherheitsbüros, also halbinterne Geschichten. Es war aber nicht nur trockene Archivarbeit, denn ich habe beispielweise Herbert Eichenseder (Anwalt, Anm.) getroffen. Ich bin auch zu Polizistenstammtischen gegangen. Mit einem Gerichtsmediziner habe ich mich auch regelmäßig getroffen und bei ihm Vorlesungen besucht. Den habe ich witzigerweise im Circus- und Clownmuseum als chinesischen Papierzauberer kennengelernt, als ich das Praterbuch geschrieben hab’.

Über welchen Zeitraum erstrecken sich die Fälle, die im Buch vorkommen?

Von den Nachkriegsjahren bis in die 1980er-Jahre. Das ist auch die Zeit, in der es die Presseagentur Votava gegeben hat.

Hast du deine Nase auch in die Kreise von Täter:innen bzw. Opfer hineingesteckt?

Täter wollte ich nicht treffen. Mit Werner Kniesek und Günter Lorenz wären noch zwei am Leben, aber ich muss sie nicht kennenlernen. Mir ist Geronimo bekannt, der als erster Mod von Wien bekannt ist, und mit einem Opfer von Günter Lorenz in die Schule gegangen ist. Er kann von damals erzählen, aber das sind keine handfesten Informationen. Da geht es darum, ein Gefühl fürs Milieu von damals zu bekommen.

Das führt mich zum Dokumentarfilm Aufzeichnungen aus der Unterwelt von Tizza Covi und Rainer Frimmel über Kurt Girk und Alois Schmutzer. Dieser Film hat zwar viele Preise gewonnen, trotzdem finde ich ihn furchtbar. Meiner Ansicht nach haben sich die Filmemacher:innen von ihren Protagonisten um den Finger wickeln lassen. Girk und Schmutzer können sich als nette alte Herren inszenieren, die früher halt Strizzis gewesen sind. Ich weiß, du hast diesen Film gesehen. Wie findest du ihn?

Grundsätzlich sind Frimmel und Covi gute und ernsthafte Filmemacher:innen. Beim Unterwelt-Film würde ich mich auf einen Directors Cut freuen, weil ich glaube, dass sie auf gutem Material sitzen. Hier ist eine Publikumsunterhaltung als Verniedlichung der Unterwelt herausgekommen. Ich war bei der Premiere und bin kopfschüttelnd aus dem Kino gegangen, denn erstens ist der Film auf die leichte Schulter genommen worden, zweitens hat das Publikum immer an den falschen Stellen gelacht. Der Film besteht aus ein paar lustigen Gschichteln, aber der Informationsgehalt geht gegen null. Dieses Unterwelt- und Strizzi-Ding ist ein bisschen hip geworden, es gibt dazu natürlich auch gute Figuren wie Georg Friedrich und Voodoo Jürgens, die auch was zu sagen haben. Egal, ob es ein Buch, ein Film oder Musik ist, wenn man es aufs Publikum loslässt, hat man die Kontrolle darüber verloren, über die Reaktionen kann man nicht mehr bestimmen. Somit wäre es interessant, von Frimmel und Covi zu erfahren, ob sie glauben, dass ihr Film in die richtigen Kanäle gekommen ist oder ob sie sich missverstanden fühlen.

Für mich bist du nicht in die Falle der Verharmlosung getappt, auch wenn der eine oder andere salopp formulierte Satz zu finden ist.

Ich war mir dessen bewusst und habe daher versucht, so nüchtern und skeptisch wie nur möglich zu schildern, nicht reißerisch zu schreiben.

Du bringst den Fall des «Opernmörders» Josef Weinwurm, der 1963 eine elfjährige Ballettschülerin ermordet hat. Zu ihrem Begräbnis sind rund 10.000 Menschen gekommen, was aus heutiger Sicht kaum vorstellbar ist. Hast du dafür eine Erklärung?

Es herrschte eine Stimmung zwischen Kirtag und Empörung. Gerichtskiebitze sind in Schlangen vor dem Verhandlungsaal gestanden und Tickets für die Verhandlung sind zu Opernkartenpreisen gehandelt worden. Aber auch bei Tatorten haben Menschen Hobbydetektiv gespielt. Womöglich ist es eine unterhaltungsschwache Zeit gewesen, in der es mehr ums Spektakel als um echte Anteilnahme gegangen ist.

Verfolgst du aktuelle außergewöhnliche Verbrechen?

Nicht mehr als andere Themen. Es interessiert mich wie menschliche Kanonenkugeln, wie Komodowarane, wie alte Wiener Beisln oder der Wiener Prater.

Im Sommer hat es drei Messerattacken auf schlafende Obdachlose gegeben, zwei davon verliefen tödlich, doch das Interesse der Öffentlichkeit ist rasch verebbt. Woran kann das liegen?

Kriminalfälle sind mittlerweile ein bisschen wie Fastfood, sie gehen rein und raus. Stichwort Tatort (die Krimiserie, Anm.) – jede Woche ein neuer Fall, picken bleibt dabei nichts.

Dein Buch zeigt anhand zweier Fälle, dass auch Frauen außergewöhnliche Morde begehen.

Das waren für die Öffentlichkeit total interessante Fälle, wie das Animiermädchen, das den König des Schleichhandels (= Schmuggel) mit einem Fleischwolf erschlägt. Als sie vor Gericht gestanden ist, ist sie auch noch schwanger gewesen – also ein gefundenes Fressen.

Hast du jetzt genug von Mörder:innen oder haben sich neue verfolgenswerte Stränge aufgetan?

Brutale Mordfälle interessieren mich weniger, aber die Wiener Unterwelt schon noch. Einen alten – bezeichnen wir ihn als – Strizzi kenne ich schon länger. Er erzählt mir bei regelmäßigen Treffen über sein Leben in Wien, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Ich verfolgte auch länger die Idee, über die Wiener Unterwelt zu erzählen, musste aber feststellen, dass die Leute, die erzählen könnten, die Pappen halten, und die, die viel reden, meistens nichts wissen.

 


Falsche Fährte, richtiger Riecher

Mit dem Titel Tatort Wien legt der Verlag in Kombination mit der fürs Vorwort engagierten Schauspielerin Adele Neuhauser eine falsche Fährte, denn das Buch von Clemens Marschall hat nichts mit der beliebten TV-Krimiserie zu tun. Im Gegenteil, der Autor schaut diese nicht einmal, wie er dem Augustin verraten hat. Irritierend kommt hinzu, dass es bei einigen Verbrechen keinen Bezug zu Wien gibt.
Ausgangspunkt von Tatort Wien. Verbrechen, Mord und Totschlag. Wahre Kriminalfälle ist die Pressebildagentur Votava, die von den ersten Nachkriegsjahren an für zirka 40 Jahre aktiv gewesen ist. Rund eine Millionen Aufnahmen quer durch den Gemüsegarten, darunter eben auch Fotos von Kriminalfällen, bilden ihre Hinterlassenschaft. Imagno Brandstätter Images erwarb 2013 dieses Archiv und der Brandstätter Verlag veröffentlichte nun mit Tatort Wien die erste Publikation, die explizit auf diesem riesigen Fotoschatz basiert.
Clemens Marschall recherchierte anhand von vorgefundenen Kriminalfotos aufsehenerregende Fälle, darunter viele brutale (Serien-)Morde, nach. Somit ein Ausgangsmaterial, das eine Gratwanderung zwischen Verharmlosung und Übertreibung erfordert. Und diese ist bemerkenswert unangestrengt gelungen.

Clemens Marschall: Tatort Wien. ­Verbrechen, Mord und Totschlag. ­Wahre Kriminalfälle
Brandstätter 2023
192 Seiten, 25 Euro (E-Book 20,99)