Die Wut ist großtun & lassen

Sozial- und Pflegearbeiter_innen unter Druck

Unterbesetzung und Überstunden. Sozial- und Pflegearbeiter_innen demonstrierten im Februar in Österreich für ­bessere Arbeitsbedingungen. Die Kollektivvertragsverhandlungen ­führten danach zu einem ­Abschluss. Also alles gut? Nicht wirklich, hat ­Markus Schauta herausgefunden. Illustration: Seda Demiriz

Ein umfangreiches Sozialpaket, das u. a. eine Gehaltserhöhung von 3,2 Prozent beinhaltet, einen zusätzlichen Urlaubstag nach Vollendung des ersten Dienstjahres und mehr Geld für kurzfristiges, freiwilliges Einspringen an einem freien Tag. Das haben die Kollektivvertragsverhandlungen gebracht, sagen die Gewerkschaften Vida und GPA-djp. Aber viele Stimmen bleiben kritisch. Als «chronisch unterbesetzt» bezeichnet Verena Weißmüller* die Wiener Flüchtlingsunterkunft, in der sie arbeitet. Es gibt zwar so viele Mitarbeiter_innen, dass die Menschen von Montag bis Sonntag rund um die Uhr betreut sind. Aber: «Dass die Angestellten Anspruch auf fünf Wochen Urlaub im Jahr haben, wird dabei nicht berücksichtigt», so Weißmüller. Ebenso wenig sind mögliche Krankenstände und Feiertage eingeplant. Dass Kolleg_innen in solchen Fällen einspringen, sei machbar, solange die Zahl der Angestellten hoch ist. Wenn die Einrichtung aber nur aus zwei WGs besteht, die von wenigen Personen betreut werden, werde das zu einem Problem. «Fällt jemand aus, müssen andere erhebliche Mehrarbeit leisten, um die 24-Stunden-Betreuung abzudecken», sagt Weißmüller.
Ein anderer Punkt ist, dass viele der anfallenden Arbeiten nur durch speziell geschulte Mitarbeiter_innen getätigt werden können. Etwa Vorbereitungsgespräche mit Minderjährigen bei Asylverfahren, oder Begleitung zu Gerichtsterminen. Diese Aufgaben können nicht einfach an Kolleg_innen abgegeben werden, müssen aber termingerecht erledigt sein. Auch da heißt es dann bleiben und Mehrarbeit leisten, bis die Dinge abgearbeitet sind.

Ständig Überstunden.

«Das alles führt oft dazu, dass Leute, die in Teilzeit angestellt sind, auf eine Wochenarbeitszeit von Vollzeit-Angestellten kommen», so Weißmüller. Eine sechste Urlaubswoche, wie die Gewerkschaft sie fordert, sei gut gemeint, aber nicht realistisch. «Ich weiß nicht, was mir sechs Wochen Urlaub bringen, wenn ich sie nicht konsumieren kann.»
Unter den zu wenigen Mitarbeiter_innen leide auch die Qualität der Arbeit. «Wenn ich etwas mache, bin ich im Kopf schon wieder bei anderen Dingen, die auch noch zu erledigen wären.» Oft fehle es an Zeit, um sich mit allen Jugendlichen gleichermaßen auseinanderzusetzen.
Berichte wie jener von Weißmüller sind kein Einzelfall. Ständige Überstunden gehören in der gesamten Branche zum Arbeitsalltag. Ohne diese Mehrarbeit würde das System kippen. Doch anstatt mehr Personen einzustellen, verlassen sich die Arbeitgeber_innen darauf, dass ihre Mitarbeiter_innen es schon irgendwie hinbekommen.
Irgendwie hinbekommen muss es auch Alfred Schwarz*, der in der Obdachlosenhilfe arbeitet. Überstunden sind auch bei ihm Teil des Arbeitsalltags. Und das in einem Beruf, der auch ohne Mehrstunden schon belastend ist. Schwarz und seine Kolleg_innen sind täglich mit Menschen konfrontiert, die mit großen Problemen zu kämpfen haben, mit Menschen, die Alkohol- oder Drogen konsumieren, oder sich schwierig verhalten. Und wenn Klient_innen krank sind, bringt das die Gefahr von Ansteckungen mit sich. Das stellt eine große Herausforderung für die Psyche von Sozialarbeiter_innen dar.

Burn-out-Gefahr.

Aufgrund der hohen Belastung würden viele mit 45 oder 50 Jahren das Handtuch werfen, so Schwarz. «Damit geht aber viel Erfahrungswissen verloren, das kein Qualitätshandbuch ersetzen kann.» Es müsste daher im Interesse der Arbeitgeber_innen sein, diese langjährigen Mitarbeiter_innen zu halten. Wichtig wäre daher eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Das würde Burn-out verhindern helfen und die Qualität der Arbeit stabilisieren.
Doch bei der Frage, was Qualität ist und wie viel diese kosten darf, gibt es unterschiedliche Ansichten zwischen Fördergeber_innen und Mitarbeiter_innen. In den letzten zehn bis 15 Jahren werde zusehends auf betriebswirtschaftliche Methoden zur Evaluierung zurückgegriffen, weiß Schwarz. «Zahlen sollen Leistungen abbilden, die eigentlich nicht messbar sind.» Etwa bei Beratungsgesprächen: Was sage es aus, wenn die eine Beratungsstelle 5000 Gespräche im Jahr führt und die andere nur 3000? Oder wenn die eine Einrichtung mehr Menschen in Gemeindewohnungen vermittelt als die andere? Die Fragen müssten doch eher lauten, inwieweit die Gespräche den Klient_innen helfen konnten und wie lange zuvor Obdachlose in Gemeindewohnung leben, bevor sie wieder auf der Straße landen. «Diese Studien müssten daher langfristig und auch qualitativ angelegt werden, was aber nicht passiert», so Schwarz.
Insgesamt sei auch der Konkurrenzdruck zwischen den Organisationen gestiegen. «Die Fördergeber wollen niedrige Kosten, wenn der eine Träger es nicht zu dem Preis leisten kann, bekommt den Auftrag ein anderer.» Am Ende führt das zu jenem System, wie wir es heute haben: Unterbesetzung, große Zahl an Mehrstunden und hohe Gefahr für Burn-out. «Die Wut ist groß im Sozialbereich», so Schwarz. Aber die Gewerkschaften seien schwach, weil es nicht eine große Vertretung für alle gibt, sondern sich mehrere Gewerkschaften die Vertretung der in den Sozial- und Pflegeberufen Tätigen teilen.

Niedriges Grundgehalt.

Michael Gehmacher ist Flüchtlingsbetreuer. Außerdem ist er bei der Initiative Sozial, aber nicht blöd und bei der Sozialistischen LinksPartei (SLP) aktiv. Seit Mai 2019 ist er Betriebsrat beim Arbeiter-Samariter-Bund, Bereich Wohnen und Soziale Dienstleistungen. Mit dem, was die Gewerkschaften im Februar herausgeholt haben, ist er nicht zufrieden. «Der große Einkommensunterschied zwischen uns und anderen Berufsgruppen wurde nicht geschlossen – mit längeren Streiks wäre mehr drinnen gewesen», sagt Gehmacher. Das Grundgehalt sei nach wie vor zu niedrig. «Willst du mehr verdienen, musst du an Wochenenden und in der Nacht arbeiten.» Doch das sei psychisch und physisch anstrengend. «Viele Kollegen sagen, das packe ich nicht 38 Stunden die Woche, und bleiben in Teilzeit.» Andere haben Betreuungspflichten, die sich mit flexiblen Arbeitszeiten nicht vereinbaren lassen. Es brauche daher eine massive Erhöhung des Grundgehaltes. «Sechs Prozent wurden bei der letzten Verhandlung gefordert, mit den erreichten 3,2 Prozent wurde das Ziel verfehlt.»

Lösung Arbeitszeitverkürzung?

Die Unterbesetzung sieht Gehmacher als massives Problem der gesamten Branche. Viel zu oft seien Personaleinsatz und Dienstpläne so knapp gestaltet, dass jeder Ausfall zur Herausforderung wird. Die hohe Loyalität der Mitarbeiter_innen zu Team und Klient_innen führe dazu, dass Überstunden hingenommen werden. «Bevor niemand da ist und geplante Aktivitäten ausfallen müssten, beißen sie in den sauren Apfel und übernehmen den Dienst.» Durch diesen Übereinsatz über Jahre hinweg sei die Gesundheit gefährdet und drohe Burn-out.
Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn und Gehalt sieht Gehmacher als Lösung. Allerdings müsse diese mit einer Aufstockung des Personals einhergehen, damit sich am Ende die Verkürzung der offiziellen Arbeitszeit nicht in einem Mehr an Überstunden auswirkt.
Bei Fragen der Bezahlung und Anstellung zusätzlichen Personals verweisen Arbeitgeber_innen oft auf Trägerorganisationen und Fördergeber_innen. Doch diese Abschiebung der Verantwortung lässt Gehmacher nicht gelten. Arbeitgeber_innen hätten eine klare Verpflichtung, Geld aufzustellen, um die Angestellten angemessen zu bezahlen. Zusätzlich ist es Aufgabe der Gewerkschaften, mehr Druck auf die öffentliche Hand auszuüben. «Es braucht mindestens zehn Prozent mehr Geld im Sozialbereich, um das aktuelle Ausmaß an Missständen zu reduzieren», so Gehmacher.
Auch nach den Kollektivverhandlungen bleiben Gesundheits- und Sozialbereich also eine Baustelle. 

* Namen von der Redaktion geändert

Über aktuelle Entwicklungen im Sozial- und Pflegebereich siehe: sozialabernichtbloed.blogspot.com