Gedanken zur Brus-Retrospektive «Unruhe nach dem Sturm»
Günter Brus, der 1968 den Staat beleidigte, wie ihn noch niemand zuvor heruntergemacht hatte, indem er onanierend, urinierend, scheißend und kotzend die Bundeshymne zum Besten gab, musste 13 Jahre lang warten, bis er den ersten Preis vom Staat bekam, den Österreichischen Kunstpreis für Bildende Kunst. Ab da ging es mit den Preisen Schlag auf Schlag. Von Robert Sommer.
Foto: Ludwig Hoffenreich/Günter Brus
Nicht nur mit Preisen ehrt(e) man das ehemalige «Ferkel», sondern mit Hommagen aller Art, deren großzügigste das eigene Brus-Museum in Graz ist, das sogenannte Bruseum im Joanneumsviertel der Grazer Innenstadt, und deren aktuellste die umfassende Retrospektive im Belvedere 21, der Hochkulturschleuder des künftigen Neu-Wiener Sonnwendviertels. Anlass: der nahende 80. Geburtstag des in Graz lebenden Avantgardisten. Was mir schon bei der letzten großen Aktionismus-Ausstellung im Mumok (2006) und bei der Otto-Muehl-Retrospektive in der Angewandten (2004) aufgefallen war, gilt auch für die Brus-Ausstellung: Die Umwandlung der «Staatsfeinde» in Staatspreisträger, die wundersame Eingliederung der Ausgegliederten, auch die Selbsteingliederung der Selbstausgegliederten wird nicht reflektiert. Als ob diese Eingemeindung ein quasi automatisches Fortschreiten wäre. Als ob plötzlich alle Welt die Logik des neuen «Kunstwerk»-Begriffs teilte: Kunst ist nicht das Resultat einer Aktion. Sondern sämtliche wahrnehmbaren Ereignisse, die im zeitlichen und räumlichen Umfeld dieser Aktion geschehen und die sich auf diese Aktion beziehen, ergeben das Kunstwerk. Eine bestechende Definition, die etwa die Amtshandlung von Polizist_innen, die die Aktion verhindern wollen, zum unfreiwilligen Teil des Kunstprojekts macht.
Märchenhafte Preise.
Eine kuratorische Herausforderung wäre, die Vermarktungs- und Verwertungs-Mechanismen verstehen zu helfen, die den «Zerstörer_innen» der Kunst das Tor zum Weltkunstmarkt weit öffneten. Über die märchenhaften Marktpreise, die die Stars der aktionistischen Szene für jedes Stück «Antikunst» erzielen, wird auch deshalb nicht gesprochen, weil man die Neiddebatte vermeiden und die Ressentiments des Stammtischs gegen die «Staatskünstler» nicht indirekt unterstützen will. Zu spät: Die Rechten erobern das Monopol auf die Kritik zeitgenössischen Kunstschaffens. Von den oft linken Kurator_innen wird die Mehrheit nicht erreicht: Arbeiter_innen überschreiten selten die Schwellen zur modernen Kunst.
Ich krame meine Notizen von der Aktionisten-Schau im Mumok heraus. Zumindest in den Gesprächen mit Günter Brus wurde die späte offizielle Würdigung der ehemaligen Provokateur_innen thematisiert. Die Willkommenskultur, mit der die Eliten ihre größten Kritiker_innen überraschen, sei in der österreichischen Kulturpolitik zur Gewohnheit geworden. Brus nannte das Beispiel Kokoschka. Wie er selber, Brus, flüchtete auch Kokoschka als sogenannter «entarteter Künstler» ins Ausland. Nie wieder werde er Österreich betreten, kündigte Kokoschka an – und malte kurze Zeit später ein Porträt des Bundespräsidenten. Das Beste sei, die Förderungen und Anerkennungen des Staates anzunehmen, und – falls das mit Geldüberweisungen verbunden ist – das Geld einem nicht so gut situierten Künstler zu schenken. Brus hält nichts von «Preis-Verächtern, die Preise zwar annehmen, dann aber eine Brandrede gegen den Staat halten»; wohl eine Spitze gegen Thomas Bernhard. Günter Brus hat bei dieser Gelegenheit zugegeben, dass er sich um den großen österreichischen Staatspreis ein Auto kaufte. «Meine Frau hat mir geraten, den Preis anzunehmen. Sie sollen zurückzahlen, was sie uns schulden, meinte sie.»
Vom Heldenplatz zum Stephansdom.
Der Staat hat nicht «immer schon», wie Brus suggerierte, die kunstzerstörerische Avantgarde, die noch dazu – beeinflusst von der Lektüre anarchistischer Texte – der Utopie der Zerstörung des Staates nicht abgeneigt war, «solidarisch» umarmt, bis sie handlungsunfähig wurde. Der Staat hat aber dazugelernt, detto die zivile Gesellschaft. In der Günter-Brus-Retrospektive im Belvedere 21 kann man sich ein Video aus dem Jahr 1965 anschauen. Damals trat Günter Brus mit seinem «Wiener Spaziergang» erstmals als Aktionist direkt an die Öffentlichkeit: Er flanierte, begleitet von Freundinnen und Freunden, vom Heldenplatz zum Stephansdom. Nicht etwa nackt. Sondern anständig bekleidet, allerdings von oben bis unten weiß bemalt. Durch einen vertikalen schwarzen Strich teilte er seinen Leib in zwei Hälften. Er trug quasi sich selbst, durch das verfremdete Äußere in ein lebendiges Bild verwandelt, durch die glotzende Wiener Innenstadt. Nicht lange, denn die Polizei verbot den Spaziergang abrupt. Die Videodokumentation endet, wo der heitere Delinquent von der Exekutive abgeführt wird. Damals durften nur Rauchfangkehrer anders ausschauen als das anständige Volk, ätzte Brus. Heute könnte er im damaligen Outfit vom Heldenplatz nach Scheibbs gehen, ohne von irgendwem behelligt zu werden. Das Prinzip der Freiheit der Kunst hat sich in den Korridoren der Kunstbürokratie durchgesprochen – nicht vollständig, aber sukzessive. Ohne die Beiträge des Aktionismus wäre das Leben reglementierter.
Im besten Sinne radikal.
Aus dem seinerzeit weithin unverstandenen Quartett Brus/Mühl/Nitsch/Schwarzkogler, für das Oswald Wiener den Begriff «Wiener Aktionisten» prägte, sticht meiner Meinung nach der Erstgenannte als im besten Sinne Radikaler heraus. Er ist der radikalste in der Bereitschaft der körperlichen Selbstverletzung, die der vom deutschen und österreichischen Faschismus delegitimierten Kunst des Wahren, Schönen und Guten gegenübergestellt wird, und er ist der radikalste in seinem politischen Widerstandspotenzial. Fehlte Brus in der Aktionistenrunde, ginge für mich ein Teil des Flairs verloren, das der Perinetkeller als ehemaliges Atelier der vier genannten Herren ausstrahlt (der Autor zählt zu den Mitbetreiber_innen der Revitalisierung des Kellers im 20. Bezirk, siehe www.perinetkeller.at, Anm. d. Red.).
Zwei extrem unterschiedliche «Zeugen» für meine in gewissem Sinne fragwürdige Favorisierung können genannt werden: auf der einen Seite der psychiatrische Gutachter Heinrich Gross, bekannt als der Auslöscher «unwerten Lebens» am Wiener Spiegelgrund, auf der anderen Seite Aktionisten-Partner Otto Muehl. Dem NSDAP-(später SPÖ-)Arzt Gross war sofort klar, dass Brus in der Analyse der Gesellschaft am klarsten überlegte. Wenn ein Staatsfeind seine Verleumdung durch ein offizielles Gross’sches Gerichtsgutachten verdiente, dann war es der störrische Brus. In die Sprache des angesehenen Todesarztes übersetzt: «Günter Brus ist zwar im Kollektiv seiner Mittäter der am schwächsten Begabte, doch reicht sein Verstandesniveau durchaus aus, um den Unrechtgehalt der ihm vorgeworfenen Handlungsweise zu erkennen und einzusehen.» Er, Gutachter Gross, habe «stark ausgeprägte Hinweise auf erhöhte Aggressionsmechanismen und auf eine massive Konfliktbereitschaft mit der Umgebung» gefunden.
Aktion als Kriegserklärung.
Kristine Stiles (Kunsthistorikerin an der Duke University, Durham) begrüßt in einem der Texte des Ausstellungskatalogs die Material- und Körperaktionen als Auferstehung realistischer Kunst in ganz neuer Form: Brus’ Aktionen «brachten die Lebenswirklichkeit in die Kunst, wie es ähnliche Bilder des sozialen Ekels von Künstlern wie de Goya oder Egon Schiele zuvor nur hatten andeuten können». Es geht um die Skandalaktion Kunst und Revolution 1968 in der Wiener Uni, in der Brus das Publikum schockierte, indem er sich mit einer Rasierklinge blutig verletzte, sich mit seinen Exkrementen beschmierte und viele andere unanständigen Sachen machte. Günter Brus rechnete damals mit vielem, aber dass «das System» die Aktion als Kriegserklärung gegen sich wertete, konnte er nicht ahnen: «Aufgestachelt durch die hetzerische Boulevardpresse wurde ich zum Staatsfeind Nummer eins. Man hatte das Gefühl, die hätten am liebsten das Militär organisiert, um gegen uns anzutreten. So aufgeheizt war die Stimmung.»
Gelungene Integration.
Aktionistenkollege Otto Muehl brachte 1977 sein autobiografisches Bändchen «Weg aus dem Sumpf» heraus, dessen Kapitel «Materialaktion» ein einziger kollegialer Kotau vor dem «Vorbild» Günter Brus ist. «Günter Brus war erst 22 Jahre alt, ich damals 35, trotzdem wurde Brus mein Lehrer (…) Günter Brus war das einzige lebende Genie, dem ich je begegnet bin. Was er über Sexualität und Frauen dachte, war äußerst naiv, aber wenn er über Malerei und Kunst sprach, sprach er sozusagen ex cathedra (…) Er beschimpfte mich als alten Trottel (…) Brus war (bei der Uni-Aktion, R. S.) der radikalste, er stand auf dem Vortragstisch, schiss sich in die Hand und sang dazu die österreichische Bundeshymne (…) Professor Pittioni, der der Vorführung beiwohnte und der ein vernünftiger Mann zu sein schien, stürzte mit vorgehaltener Hand aus dem Hörsaal, fiel weinend einem Assistenten um den Hals und schluchzte: Diese Schande! Diese Schande! Der österreichische Unterrichtsminister rief damals pathetisch auf: Ich schäme mich, Österreicher zu sein.»
Den betreffenden Unterrichtsminister kennt heute niemand mehr außerhalb unseres Landes. Günter Brus, der auf der documenta in Kassel, in der Tate Gallery in London, im Centre Pompidou und im Louvre in Paris, auf der Biennale in Venedig und überall sonst ausstellte, prägt das Österreichbild im Ausland mehr als besagter Minister. Niemand mehr wirft ihm öffentlich vor, eine Schande für Österreich zu sein. Was als Folge der gelungenen Integration des Künstlers in den Kulturbetrieb gedeutet werden kann. Neue Künstler_innengenerationen mögen erscheinen, die mit neuen Taktiken, mit neuen Ideen zur Schande werden. Die schwarzblaue Macht hat böse Kunst und böse Kunstschaffende verdient.
Unruhe nach dem Sturm
Günter-Brus-Retrospektive
Bis 12. August im Belvedere 21
3., Arsenalstraße 1
Katalog, ca. 300 Seiten, 36 Euro
www.21erhaus.at